Italien wird von den Mittel- und Nordeuropäern auf zwei Wegen befallen, einmal über München, Innsbruck, den “Brennero” über Verona, wo man dann einen Abstecher nach Venedig machen kann, oder über die Schweiz hinter Basel rechts ab Richtung Bern. Vor der großen Gabelung kann man dann wieder wählen, ob es der Bernardino oder der Gottardo Tunnel sein soll, deren Pässe man einst genauso hochklimmen wie man das Brennertal, jetzt mit der Brücke überspannt, durchkurven mußte. Egal ob Bernardo oder Gottardo, wo die Franzosen von Mégève aus zustoßen, man findet sich im Ticino beim Bettelweib von Locarno und Adenauers Boccia Platz in Lugano auf der uralten Reisestrecke wieder und passiert die Grenze bei Como. Zwischenziel ist dann Mailand, von wo ab die Toscanasüchtigen auf der Autostrada del Sole nach Süden rasen, parallel zu Adriafanatikern, die Rimini über Verona erreichen wollen. Einige biegen nach rechts ab Richtung Genua, um sich vor den uralten Olivenhängen an den Strand der Riviera zu legen oder südlich Richtung Livorno die Strände bei Lucca, Massa oder Follonica zu bevölkern. Vergessen wir nicht die Fährenfahrer von Genua, Livorno oder Civitarecchia, die Korsika oder Sardinien ansteuern. Beide Horden wälzen sich parallel nach Süden, der Sonne entgegen und beziehen allenfalls die Ränder jener Autobahnen im Osten, den Gardasee und Venedig, im Westen die Schweizer Seen, Florenz und schließlich Rom ein.
Bergamo
Genau dazwischen, zwischen Mailand und Verona, zwischen Alpen und Po-Ebene in der Lombardei liegt das Erzbistum Bergamo, das über mehr als 1000 Jahre ständig seine Besitzer und Eroberer wechselte, die wohl nur deshalb kamen, weil man damals längere Halte auf der Strecke nach Rom brauchte. Venezier, Genueser, Spanier, Österreicher, Hunnen und Deutsche arrangierten sich jeweils mit den beiden die Stadt beherrschenden Familien, die sich mit hoch herausragenden Türmen in der Citta Alta, der Oberstadt, sichtbare Zeichen ihrer Herrschaft geschaffen hatten. Die Stadt auf dem Berge, woher der Name Bergamo stammen mag, hat für die Moderne in ihren bis zu 15 m hohen Mauern keinen Platz gelassen, sondern sie demütig an ihre südliche Füße beordert, wo sie mit einer neuzeitlichen Prachtstraße von kaum 1000 Metern durch zwei Triumphbögen hindurch bereits beim Bahnhof endet.
Bergamo ist irgendwie abgekoppelt vom Strom. Nicht einmal der Zug Mailand-Venedig schafft es näher als 20 km heran, so daß eine eigene Abzweigung in den Sackbahnhof leitet. Trotz knapp 300 000 Einwohnern, eines der populärsten Päpste Giovanni Venti Tre (Johannes der 23.), der als Spaghetti-essender Opa oder als gütiger Vater die Standbilder der Wohnzimmer seines einstmaligen Bistums füllt, ist Bergamo weit italienischer geblieben als sein 50 km entfernter großer Verwandter. Mailand, deren „Milanesi“ hier sonntags in die Berge wollen und einen ganz anderen Dialekt sprechen. Bergamo’s Citta Alta ist das Juwel einer Stadt. So reich an Baudenkmälern und Gemälden, mit einem der Enge geschuldeten autofreien Gewirr von Gassen, die plötzlich auf die großen mittelalterlichen Plätze hinauslassen, mit ihren Brunnen und Restaurants, mit Theater und Dom. Hoch geht man entweder zu Fuß oder mit der Seilbahn. Doch für das Auto gibt es eine breite Straße vor der Stadtmauer, an der man besser entlang läuft und den Blick in die Ebene genießt, denn oben gibt es kaum Parkraum.
Die Spitze des Bergs nimm das Priesterseminar ein, weit ausholend und gepflegt. Bergamo ist auch heute noch reich und das Alte ist nicht nur vortrefflich erhalten, sondern es wird auch für seine eigenen Bewohner gepflegt, weder ein Grußkartenmekka wie in Rom und Florenz noch eine von den deutschen Investoren verödetes Juwel wie in Imperia and der Riviera. Ein Konzert im Sala Donizetti, ein dem berühmten Sohn der Stadt gewidmeter Saal mit wunderschöner Akustik, gibt viel ebenso die vielleicht spannendste Kirche der Welt, in der durch Freilegung und Anbauten die großen Stile von der Romanik über Gotik und Barock vereint und verwirrt sind. In die Citta Alta gedrängt ist die Universität mit ihren wenigen Fakultäten, die sich nach der Decke der Privatinvestoren streckt, um der allgemeinen Verarmung italienischer Universitäten zu entgehen: Priesterschüler und Studenten, einige Touristen und die jungen Leute der Stadt, die noch beim Nestbauen sind, ohne von den Kindern oder dem Fernseher an die Stube gebunden zu sein, sitzen auf dem Platz und seinen überdachten Gängen auf Säulen. Kunsthandwerk und Souvenirläden, Eisverkäufer und Restaurants schließen ihre Pforten erst gegen Mitternacht oder wenn die Zeit allzu langweilig wird.
Wer in der Citta Alta eine Wohnung in jahrhundertealten Häusern sich leisten kann, der gehört, anders als in Florenz nicht zu jenen, denen die Villa am Stadtrand verwehrt blieb.Wenn auf dem unteren Platz Theater gespielt wird, der klare Voralpenhimmel und die angenehme Kühle des Abends das Moderne der Stadt in die alten Gemäuer zurückholt, die beiden unmotiviert hohen Türme der Familien in den Himmel ragen, dann kann man sich die Intrigen der Capulets, der Borgias und die huschenden Gestalten Umberto Eccos vor die Augen projezieren. Unten in der Neustadt ist es anders. Neoklassizismus, Mussolini’s Wasserturm an der Autobahnausfahrt, die jetzt verwaiste Carbinieri Kaserne mitten in der Stadt und das Kongreßzentrum der katholischen Kirche. Bergamo de oter, wie es im Bergamesco, dem Dialekt der Region klingt, das eine Mischung mit dem Schweizer Dütsch sein soll, hatte Glück, daß der Berg in den Stadtmauern besetzt war. Das Neue mußte nach unten an seinen Füßen sich austoben.
Nembro
Aber eigentlich ist Bergamo nur das Tor des Berichts. Es ist der Einlaß zu den beiden Alpentälern, die die Flüsse Brembo und Serio durchfließen, um dann dem Po das Wasser zuzuführen, damit sogar Reisfelder in der Sommerhitze gedeihen können. Das enge Brembotal, das Valle Brembana mit dem Skiort Foppolo am Ende von 40 km Aufstieg, und das weite Valle Seriana, das in den Alpen der Presolana nach 60 km abschließt, gießen nicht nur Wasser, sondern auch Menschen in die Stadt. Historisch ging es immer höher in die Berge. Die Landwirtschaft als Lebensgrundlage trieb die Menschen nach oben bis in die letzten Winkel und in die Seitentäler, wo sie ihre Ortschaften gründeten. Das zwanzigste Jahrhundert holte sie mit dem Preisverfall für Agrarprodukte wieder herunter. Wer es sich leisten konnte, zog näher an die Stadt heran, nahm neue Beschäftigungen auf oder schickte seine Kinder in die Fabrik. Die neue längst stillgelegte jetzt wieder in Funktion gesetzte Talbahn schaffte die 14jährigen Mädchen um 4.00 Uhr morgens nach Bergamo, von wo aus sie den Zug nach Mailand nehmen konnten, um ihren Tag in den Werkhallen von Pirelli zu verbringen. Die Väter und Großväter waren in Hannover oder in Süddeutschland beim Eisenbahnbau. Von den sechs Kindern, die, in den zwanziger Jahren geboren, das Überleben in einem dieser Täler versuchten, blieb keines dauerhaft im Land. Ein Bruder ging nach Südfrankreich, eine Schwester nach Paris, die vier anderen teilten sich (zwei für immer und zwei auf Zeit) die deutsche und italienische Schweiz, um dort Arbeit zu finden. Deren Kinder wiederum gingen nach Deutschland, Australien oder Frankreich. Doch von der nächsten Generation blieben alle, weil die Täler der Lombardei mit neuen Industrien und Tourismus jetzt sogar noch Sizilianer aufnehmen konnten.
Fährt man von Bergamo nicht auf der schnurgeraden Schnellstraße, die mitten in Nembro abrupt endet und am Wochenende Tausende von Milanesis im Stau vor den Bergen verenden läßt, sondern nimmt das Schild “alle Valle”, was erstaunlicherweise nicht “alle Täler” sondern „zu den“ Tälern heißt, dann kommt man in so enge bürgersteiglose Durchgangswege über Alzano und Seriate bis schließlich nach Nembro. Natürlich hat jeder dieser Orte wieder eine kleine Umgehung, bevor man alle Umgehungen umging, damit der neue umgekehrte Strom der Touristen jetzt wieder freitags in die Täler hineinfließen kann. Straßendörfer nennt man wohl solche wie Perlen dichtgedrängt, schief und verwinkelt an einem Weg gebaute Orte, bei denen man den Eindruck nicht los wird, als ob der Weg eher zufällig dort blieb, wo die Häuser nicht gegeneinander stoßen wollten.
Die Dorfstraße in Nembro zweigt links von der kleinen Umgehungsstraße ab gerade an derselben Stelle, wo die große Umgehung ihre waghalsigen Motorräder, Mopeds und Autos entläßt. 600 m dicht gedrängte Altstadt. Zwei Quersträßchen zweigen ab: die eine auf den Berg zur Madonna del Succarello, die andere raus zum Marktplatz, auch Balilla genannt, weil unter Mussolini, als dort ein schauriges Postamt und wohl auch die Banco di Bergamo gebaut wurden, die faschistische Jugend ihren Platz hatte. Sammelplatz der Motorroller am Abend und des riesigen Marktes, der sich mit Gemüse, Schuhen und Käse bis weit in die Gasse hineinzieht, ist die Balilla noch immer. Auf der Dorfstraße mögen die großen Toreinfahrten früher einmal der Landwirtschaft gedient haben. Heute sind sie zu kleinen Geschäften umgebaut, als Rundbogen in die Häuser eingelassen. Alle 40 m dann eine Bar. Resopaltische und Plastikmadonnen. Dort spielen die Alten ihre Karten, kommen die jüngeren Männer kurz rein, wenn sie ihre Frauen am Marktplatz oder beim Bäcker allein gelassen haben. Die Alten sind der ruhende Pol. Fünf, sechs umsitzen oder umstehen ein Spiel, wenn es dort lauter wird. Altsein mußten sie bisher nicht, weil nach 30 Arbeitsjahren hier viele bereits mit 44, die meisten aber mit 50 ihre Zeit zurückbekamen, ohne daß sie allerdings mehr als die Tradition der Rentner als Lehrmeister für deren Verwendung vorfanden.
Die Mittagspause wird von der Sonne diktiert. Nach dem Essen zu Hause auf dem Tisch bleibt Zeit, um in einer Bar noch den Café zu nehmen. Hier hat man nicht nur eine Stammkneipe. Wie sollte man denn auch die vielen Cousins, Onkel und Großonkel treffen. Ein Gang durchs Dorf, das inzwischen Stadtrechte hat, kann eine Stunde in Anspruch nehmen, wenn man einen Einheimischen begleitet, der den Neuling überall vorstellt und erklärt. 17 Kinder hatte die Lucia von zwei Männern und sie pries im Alter noch den 1. Weltkrieg, weil er ihr vier Jahre Schwangerschaft ersparte. Doch kaum 11 davon erlebten das 20. Lebensjahr. Zwei Töchter brauchte sie bei sich zu Hause, eine dritte kam zurück, nachdem sie als Krankenschwester in “der” Stadt, das heißt Milano gearbeitet hatte. Von den übrigen sieben hatte keiner mehr als 2 Kinder. Sie wußten warum, und heute ist Italien das kinderärmste Land der Europäischen Union. Doch verwandt sind sie immer noch allemal und in den Bars bei Beppe oder Tonino muss dies mit einem Glas Rotwein gefeiert werden, so oft und so früh am Morgen, daß es nicht aufhören will. Die Frauen schenken ein aber trinken nicht mit. Zuviel hat der Rotwein den Träumen geschadet, die Geschlechter getrennt und Wutausbrüche wie unsinnige lautstarke Diskussionen und Streite gekostet. Die Abteilung der Leberkranken im Krankenhaus des Nachbarortes ist Zeugnis eines Arbeitslebens, das insoweit keine Nachfolger mehr hat.
50-Stunden Wochen, Hungerlöhne und Ausland, die Vorbereitung auf die Altersruhe? Die Frauen scheinen besser überlebt zu haben. Oben am Ende der Dorfstraße, wo die bombastische neue Kirche aus dem 19. oder gar 20. Jahrhundert steht, dort in der Nähe hat die Kirche ihren Meetingpunkt und dort spielen die Frauen “Bingo”, treffen sich zum missionarischen Strickkreis und himmeln die Patres an, denen die Rolle der echten Römer ganz offensichtlich behagt. Wer so viel Zuspruch der Weiblichkeit erfährt, sich in die geheimsten Wünsche erfahrener Mütter einbezogen fühlt, mag die Kompensation der Ehelosigkeit ertragen können.
So ganz ohne mußte es dann auch nicht sein, wenn der augenzwinkernde Mönchsonkel ins Dorf kam und davon erzählte, daß auf der Wanderschaft viele Orte ein warmes Bett für ihn bereit hielten. Der durch den Alkohol im Alter geschwächte Ruhmvolle hatte seinen Zenit mit 20 oder 30 bei den jungen Müttern, die als Alternative zu ihren Ehegatten verzweifelnd die kleinen Söhne hochpäppelten, damit sie dann später das Bild der dienenden Frau mit sich herumtragen konnten. Solange der Vater darüberstand, sind die eigenartigen Pärchen geduldet. Mit dem beruflichen Aufstieg der Söhne und ihrer eigenen Vaterrolle, die den Alten überflüssig und mangels Kontakt zu den Kleinkindern auch faul und nichtsnutzig erscheinen läßt, wird in Wirklichkeit die gedemütigte Mutter zur alles beherrschenden Großmutter, die durch ihre Söhne herrscht und sich ihrer unverheirateten Töchter bedient, während der ehemals große Gatte im Dorfbistro schwadroniert und beim Wein Karten spielt.
Wer das bis zur Urgroßmutter durchgehalten hat, dem lag das Dorf zu Füßen. Das kann man erfahren, wenn man sich auf der Pilgerfahrt von dem in der Mitte der Dorfstraße abzweigenden Kreuzweg zur Madonna di Soccarello aufmacht. Der Vergleich des Berges, von dem man aus weit in die Ebene über den Serio hinaus Mailand sehen zu können glaubt, mit dem Namensvetter aus Rio de Janeiro, der mit doppelter Höhe den Blick auf die Copa Cabana freigibt und die Sklavenschiffe einst grüßte, ist eher blasphemisch. Doch unter den Italienern in Rio und Sao Paulo mag durchaus ein Nembrese gewesen sein, der in der Heimat vom Zuckerhut erzählte.
Dort oben jedenfalls ist die schmuckgefüllte Kirche, deren Madonna alljährlich im August ein Fest entfacht, zu dem sie alle hochpilgern, ob Kommunist oder Gläubiger. An langen Brettertischen und Bänken im Schatten ihrer großen Laubbäume gibt es Spaghetti und Tripa, was wohl Pansen bedeutet sowie Wein und Brot, Steaks und Tomaten zu geringen Preisen. Hier oben, bei dem mit Lampen weit ins Tal geschmückten Kirchlein, sind sie nicht alle vor der Madonna gleich. Hier hat die Urgroßmutter ihren Auftritt, als sie mit 93 im Auto ihres Sohnes an der Straßenbarriere der Polizei antrifft, die der Dorfpolizist eilfertig beiseite räumt, als er die Dame begrüßt. Oben am Tisch bildet sich eine Traube von Männern um sie herum, die sie einzeln nach ihren Urvätern befragt, bis sie auf einen Namen stößt, über den sie Kindergeschichten erzählen kann. Bei so viel Dominanz mag es kaum verwundern, daß die Tochter, die aus der Kapelle vom Beten zurückkommend, ängstlich fragt, ob die “Mamma” nicht die Madonna grüßen wolle, mit einem von einem Nahestehenden hingereichten 10,000 Lireschein zurückgeschickt wird mit dem Bemerken, sie solle dies der Madonna bringen. Sie selber habe gerade keine Zeit.
Wer es bis zum Soccarella zu Fuß oder per Auto geschafft hat, mag weiter die Bergwege oder besser Berggänge hinaufsteigen, auf denen das Vieh hochgetrieben wurde, an Hängen und Bächen vorbei durch den Wald zwischen sorgfältig aufgeschichteten Steinmauern. Beim Waldbauernjungen dauerte der Weg oft drei Mal so lang wie bei uns heute, gehörte es doch zur Pflicht jeden Wanderers, alle hinuntergefallenen Steine wieder sorgfältig aufzuschichten. Heute sind die meisten dieser Wege unterbrochen und nicht nur in Sorglosigkeit, sondern auch durch Großräder teilweise zerstört. Doch es gibt sie immer noch und man kann sie treffen, wenn man die Abwege wählt oder sich einheimischer Beratung versichert. Hoch bis Selvino oder auf den Monte Poieto gehen die Hohlwege, die man ohne Hast mit gleichmäßigem Schritt und gutem Schuhwerk bezwingen muß. Natürlich bleibt einem das Überqueren der asphaltierten Menschenkatapulte zum Höhenkurort 1000 m über Nembro nicht erspart. Dort schlängelt sich freitags die unendliche Geschichte der vor der Sommerhitze Fliehenden nach oben, die gerade durch ihre Flucht mit dem abgasenden Auto die Sommerhitze dort unten unerträglicher machen. Hupend, stinkend quälen sich Menschen und Konsumgüter nach oben. Die wiedereröffnete Seilbahn vom nächsten Ort Albino ist da kaum Abhilfe.
Der Soccarello ist nicht der einzige der Kirchgasthäuserorte. Wenn gegen 22.00 Uhr die südliche Dunkelheit eingebrochen ist, sieht man die Kirchen vom Seriotal aus in den Bergen leuchten. Gleich gegenüber vom Soccarello auf dem Berg auf der anderen Seite wartet ein Kloster mit Kirchen auf die Sonntagsgäste, die es ebenso reichhaltig und nicht nur einmal im Jahr zu bewirten gedenkt.
Doch zurück zur Dorfstraße mit ihren architektonischen Schätzen. Zwei kleine Kirchlein hatten sich verfallen und geschlossen zwischen den Häusern versteckt. Mit der neuen Generation ohne Kirche, mit dem Wirtschaftswunder der Lombardei und des Veneto haben auch sie wieder Investoren gefunden, die aus Baracken Juwelen erstehen lassen. Unter den Fresken hat man mit elektrischen Hämmern, die ihre Einschläge wie weiße Flecken eines Fiebers auf den Wänden hinterließen, weit ältere Fresken freigelegt, die das Gefühl mittelalterlicher Kunstschätze wie in der Kathedrale von Bergamos Altstadt vermitteln. Dunkler Raum, wie ein modernes Kino groß, strahlen sie Andacht in der Kühle ihres Schattens aus. Doch erst am Ende des alten Straßendorfes, wo man den großen Platz vor der monströsen Kirche gebaut hat, beginnt die Entdeckung eines zweiten Dorfes, dort wo die Straße von der (ersten) Umgehung rechts eng und verwinkelt zum Carcio-Bach abzweigt und oben gerade einmal die Breite eines Mittelklassewagens zwischen den Wänden akzeptiert.
Dass dieser leicht zu übersehende Weg der eigentliche Ortsdurchgang war, merkt man spätestens an der Brücke, der Ponte Romano, um die sich herum die ältesten Männer des Ortes scharen. Hier, in der Via Cavour (jeder italienischer Ort hat eine nach dem Bismarck Italiens benannte Straße, der allerdings seinen Ruf mit dem Abenteurer zweier Kontinente Garibaldi zu teilen hat), stehen die Häuser aus Flusskieseln des Serios gebaut, glatte runde Stücke, die im Fischgrätenmuster mit Lehm zusammengehalten die Mauer bilden. Unten am Carcio, der bei Regenfällen aus den Bergen herunterstürzt und die Ponte Romano mit lehmig braunem Wasser zu überschwemmen droht, aber nie wie unlängst die modernen Brücken unten am Serio zu zerstören vermochte, stehen die Häuser mit Toreinfahrt, Innenhof und drei Meter hohen Mauern. Das Erdgeschoß ist gewölbt und einsturzsicher. Die Mauer ist zurückgenommen, so daß vor der winzigen Küche ein überdachter Arbeitsraum im Freien bleibt, der beiden Häusern, die im rechten Winkel zueinander standen, diente. Auch in der ersten und zweiten Etage bleibt der mittlere Raum als innere Veranda mit Treppenaufgang frei, von dem aus die winzigen Schlafgemächer der 1. Etage, die mit gewölbten Decken die zweite Etage stützen, abgehen. Wer das Zimmer wechselt, muß durch das Freie. Ohnehin war die Toilette für alle drei Familien, auch für das im Innenhof gegenüberliegende Haus im Hof.
Bei der zweiten Etage kann man sogar über die Innenhofmauer in die Obstgärten des Gutshofes sehen, der hier ab und zu bewohnt ist und das bäuerliche Anwesen durch Pächter verwalten läßt. Dicht gedrängt steht alles am Carcio, dem man gnädig einen Tunnel samt Seitenweg unter der zweiten Betonumgehung gelassen hat, damit er an dem mit Flußsteinen gebauten leerstehenden Gehöft vorbei an der stillgelegten Tuchfabrik vorbei weiter wie seit Jahrtausenden in den Serio fließen darf. Dort unten ebenso wie oben am Berge ist das dritte, das moderne Nembro. Hier haben sich die jungen Leute der ehemaligen PCI, die heute als DS regierungsfähig geworden ist, ihre Wohnkooperative gebaut, bei der der Staat die festungsartige Anlage von Eigentumswohnungen mit Land und Zinsvorteilen unterstützt. Die Ortsbewohner, die das Gebäude der Kirche trotz des dortigen Bingospiels seit langem als “Vaticano” bezeichnen, haben die Anlage “Il Kremlino” getauft. Es gibt mehr davon. Man muss sich eben nur zum Bauen zusammenfinden. Unten am Serio steht neben dem stillgelegten Werk noch der andere Zeuge der Industrialisierung, der das Flußwasser zum Färben benutzte: Crespi, bei der die 13jährigen Mädchen in der Textilfabrik so viel oder wenig Arbeit fanden, daß sie damit nicht einmal sich selber ernähren konnten und deshalb zu Pirelli nach Mailand fuhren. Er funktioniert immer noch in einer Parklandschaft und produziert.
Doch die Zeiten der industriellen Produktion in den Tälern des Brembo und Serio sind vorbei. Dienstleistungen, Tourismus, Zahnkliniken, Service Center und Schlafstadt am Alpenrand am Berghang: die Schichten ihrer Geschichte geben sie in Bauten und Namen frei. Die Nachfahren derjenigen, die hinten am Carcio mit Maultieren als Fuhrwerker wohnten, heißen immer noch “Muri” und oben an der neuen Brücke weiß ein Schild davon zu berichten, daß hier ein Mädchen nach der Ausgangssperre von der deutschen SS erschossen wurde.
Oben auf dem Sucarello sind die Fotos der “Alpini”, jener von den Deutschen nach Rußland in den Krieg verschleppten Männer zu sehen. Die meisten sind nicht zurückgekommen und doch sind sie da, in der Kirche, viel länger, als andere, die auf dem Dorffriedhof begraben sind. Wir leben doppelt, für uns und in den anderen fort und in den anderen leben wir mit dem, was wir von uns abgegeben haben, ein Bild oder Photo oder gar eine ganze Partitur wie der kleine Mozart, der sich selber nach kaum 30 Jahren aufgeben musste, dafür aber unendlich fortlebt oder wie Donizetti, der als Sohn Bergamos im Sala Donizetti in der Oberstadt (Citta Alta) den akustisch schönsten Musiksaal Oberitaliens mit seinem Namen schmückt. Die Alpini werden unvergänglich, auch wenn sie nichts anderes taten, als nicht zurückzukommen. Wer nicht da ist, der geht frühzeitig in die anderen ein und beginnt sein ewiges Leben dort, wo es nur mit der Menschheit insgesamt sterben kann.