1968 (1)- 40 Jahre danach (geschrieben 2008)

40 Jahre nach einem aufregenden Sommer in Berlin, Paris und Prag fragfen mich junge Leute, welche Perspektive „wir“ damals hatten und ob man angesichts der Krisen, Katastrophen und Lethargien heute davon noch etwas brauchen könne.

Es gab 1968 kein „wir“. Aber es gab individuelle Perspektiven und Erfahrungsmöglichkeiten. Es gab freigesetztes „Ichs“. Man konnte etwas in sich entdecken, das lange unterdrückt schien. Diese Perspektiven (und nicht was damit geschah) sind ebenso wie die Perspektiven 1918 und 1848 auch heute relevant. Sie haben etwas damit zu tun, dass in den Köpfen der Menschen für kurze Zeit die Herrschaft der Scheinheiligkeit durchbrochen wurde und eine große Neugier auf diese Welt entstand, die so viele Möglichkeiten zu haben schien.

Doch der Sommer 68 war nicht von langer Dauer. Deshalb sollte zwischen dem, was im Mai 1968 im Audimax der FU, im Quartier Latin oder auf dem Wenzelsplatz, im Oktober 1918 in Kiel und Berlin oder im März 1848 in Baden und Frankfurt passierte, und dem, was dann als Reaktion oder Reaktion auf die Reaktion sich entwickelte bzw. dem, was Genüsse, Gelüste und individuelle Bedürfnisse aus einem solchen temporären Freiraum machten, unterschieden werden.

Der Sommer 1968 war erfreulich negativ. Er war eine befreiende Miesmacherei, eine herrlich sinnlose Anklage vor eingebildeten Gerichten, die Ablösung von Sarkasmus durch Satire, die voyeuristische Lust zusammen mit der Welt auch ihre Reifröcke auf den Kopf zu stellen oder im Ornat seiner Magnifizenz auf dem Balkon des Rektorats zu erscheinen und die Akten unters Volk zu streuen – die heiligen Akten. „Macht kaputt was Euch kaputt macht“ sang die Band „Ton, Steine, Scherben“. Symbolischer Vatermord stellvertretend an den Nazi-Professoren und Marine-Richtern, Polizisten mutierten zu „Bullen“.  „Freche Widerworte“ und „aufbegehrendes Benehmen“, wider die Prügelstrafe, die Kriminalisierung der Kuppelei, Homosexualität und Abtreibung. Befreiung von allem, was etabliert und schon deshalb dem Verdacht ausgesetzt war, mit Lüge und Macht den Kindesmissbrauch der Väter und Großväter, ihren Massenmord, ihre Folter oder Sklaverei, Kolonialismus und Angriffskriege gedeckt, vertuscht und gefördert zu haben. Dabei die merkwürdige Erfahrung, dass man mit Tausenden auf der Strasse nicht mehr allein war, Selbstvertrauen und Schutz einatmete und bei den Mumien des Dritten Reiches und ihren Assistenten Wirkungen erzielte. Eine Jämmerlichkeit, mit der scheinheilige Fassaden in Familie, Betrieb und Ausbildung zusammenfielen. Gefrorene Unterdrückung im Denken, Meinen und Fühlen schmolz unter skandierten Parolen zusammen. Papiertiger und Pappkameraden, Talare und Titel – 20 Jahre Angst schien vorbei. Der Schein einer Welt, in der mit der scheinheiligen Predigermiene eines Richard Nixon immer nur Gutes getan wurde, ob mit den Missionaren in Afrika, den US-amerikanischen Befreiern in Vietnam, den Generälen in Südamerika oder dem Wirtschaftswunder bei uns – er verlor kurzfristig seine Heiligkeit. Man konnte sich sogar das Hineinhorchen in eine eigene Moral gestatten.

Alternativen durften gedacht und formuliert werden, die langfristigen Besetzungen gesellschaftspolitischer Themen durch die drei Scheinheilgen: Antikommunismus, Gemeinschaft und Ordnung, waren gelockert. Es war erlaubt, den Kapitalismus mit seinen Blüten wie Arbeitslosigkeit, Armut, Kolonialismus, Krieg und Ausbeutung, Askese und Triebunterdrückung zu konfrontieren und über ihn hinaus zu träumen. Die Tagträume, deren historische Wurzeln Ernst Bloch in seinem „Prinzip Hoffnung“ zusammengestellt hatte, mussten nicht mehr gebeichtet werden. Viele waren Entdecker geworden, Entdecker ihrer selbst. Es ging um das Wesentliche, um Wirtschaft, um Produktionsweisen und den Dualismus zwischen politischer Demokratie und unlegitimiertem wirtschaftlichem Machtanspruch. Wir wussten noch nichts von Milliardenkorruption bei Siemens und VW, bei Berliner oder Bayerischer Hypotheken- und Wechselbank aber man durfte es für logisch halten. Frauenrecht und Dritte Welt, Raubbau an natürlichen Ressourcen, Gesundheit, Erziehung und Kultur – man konnte darüber relativ frei miteinander sprechen und behaupten, dass im 20. Jahrhundert die Wirtschaft die Gesellschaft bestimmte.

Diese Phase war kurz. Die Angst, die Marktwirtschaft insgesamt auf den Prüfstand zu stellen, kehrte so umfassend und überall zurück, dass man schon ab 1970 dankbar die weit vom Zentrum der Wirtschaft gelegenen von individueller statt sozialer Betroffenheit geprägten Fluchtwege in die Esoterik, den Feminismus, die Anti-Atomkraft- und Anti-Atomraketen-Bewegung nutzte. Die mörderische RAF-Romantik begann 1970, die K-Gruppen dressierten ihre Mitglieder auf chinesischen Kurs, der DDR-Kommunismus nutzte den Autoritätshunger entwurzelter Kleinbürgersöhne und -töchter. Berufsverbote und Unvereinbarkeitsbeschlüsse von 1973 sowie die StaMoKap-Säuberung in SPD und Gewerkschaften brachten Duckmäuser- und Denunziantentum zurück. Drogentote, verpfuschte Abtreibungen, ansteigende Arbeitslosigkeit – die bleierne Zeit der allgegenwärtigen Angst vor dem freien Denken kehrte zurück.

Sie war weniger personalisiert dafür aber natürlicher. Als Ventil entpuppten sich dann als Mitbestimmung getarnte universitäre Debattierzirkel und Gremien, in denen nicht mehr die Welt dafür aber der Stundenplan und politisch korrekte Schreibweise diskutiert werden konnte. Die Fantasie blieb in mittelfristigen Wachstumszielen stecken. „Die Investitionen von heute sind die Gewinne von Morgen und die Arbeitsplätze von Übermorgen“, war der Grundsatz einer neuen Scheinheiligkeit, die vor allem eine Einsicht zu verhindern suchte, dass der Kapitalismus mit seiner Belohnung der Großen ein grundlegendes Gerechtigkeitsproblem hat. Bis zu Hartz IV und zur Rentenlüge, bis zum Wissen um die Klimakatastrophe und die Spaltung der Welt nach Religionen war es noch ein weiter Weg.

Die für seine Fortentwicklung notwendige soziologische Fantasie wurde verschüttet. Die Nobelpreise für Ökonomie (für Soziologie und Philosophie gibt es sie bis heute nicht) gingen an diejenigen, die die Gerechtigkeitsprobleme auf Informationsdefizite und Marktungleichgewichte reduzierten. Sie wurden teilweise durch alternative Friedensnobelpreisen für Sozialarbeiter ergänzt. Wer 1968 in sich eine Empörung über Ungerechtigkeit in der Welt entdeckte, der wird seitdem mit dem Versprechen stillgehalten, man wolle darüber ausreichend und frühzeitig informieren. T.S. Elliott lässt seinen Eingangschor in „The Rock“ folgendes sagen: “Where is the Life we have lost in living? Where is the wisdom we have lost in knowledge? Where is the knowledge we have lost in information? The cycles of Heaven in twenty centuries bring us farther from GOD and nearer to the Dust.”

Die lustvolle Einführung der Bewegungen der Aktienkurse am Ende der Tagesschau ist die sichtbare Kunde von der Autorität eines Orakels, dass ähnlich objektiv wie die anschließende Wetterkarte ist.

Bei der Frage, was die letzte Politikergeneration wie Berlusconi, Schröder, Blair, Bush, Aznar, Rasmussen, Balkenende so anders aussehen ließen als Adenauer, Brandt, Erhard, De Gaulle, Andreotti, Soares oder Kohl fiel auf, dass sie alle nicht lachen aber verschmitzt lächeln, dass sie so etwas haben, was man Babyface nennen würde, und in jeder Methodistengemeinde eine hervorragende Predigt über einen einzigen Satz in der Bibel halten könnten. Allesamt können sie quasi auf Knopfdruck beleidigt sein und doch hat man das durchgehende Gefühl, um eines höheren Sinnes willen belogen zu werden. Das Lügen über die Bedrohung durch Saddam Hussein oder die Schmiergelder, über die Ausländerbedrohung oder die Wirtschaftsaussichten oder die sozialen Konsequenzen ihrer Maßnahmen hat ihnen nicht geschadet wohl deshalb nicht, weil sie bereits mit einem Heiligenschein antraten und jeder wusste, dass es die Scheinheiligkeit, der Macht- Geld- oder Sendungsbesessenen war. (Fragment geschrieben im Sommer 2008 UR)

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