US-Wahl: Mehrheit mit 5,4%? Kein Vorbild für die EU!

– Lehren aus der US-Wahl für die EU –

Die vielen Nächte, die ich mir seit Mai um die Ohren geschlagen habe, um über BBC-World-Service, CNN und ein bisschen Fox News zu begreifen, wie die US-Amerikaner denken, haben zu keinem klaren Schluss aber zu vielen unklaren Eindrücken geführt. Hier einige davon.

Der verlängerte Bürgerkrieg

Das 20. Jahrhundert war mit seinen faschistischen Bewegungen ein Jahrhundert Refeudalisierung des Staatsapparates und aller organisierten Kollektive in der Gesellschaft. Die USA waren das bürgerliche Gegenstück, hatten sie doch das englische Feudalsystem hinter sich gelassen und im Kampf der Nord- gegen die Südstaaten auch intern den Kapitalisten die Herrschaft über die Landbarone und Sklavenhalter eingefochten. Anders als in Canada und dem Commonwealth gab es keinen König mehr, die englischen Adeligen waren nicht mit ausgewandert und der Zufluss von Menschen aus vielen Ländern hatte die bürgerlich-demokratische Form der Herrschaft geprägt.

Der feudale Hintergrund

Doch der Wahlkampf hat gezeigt, dass mehr feudales Gedankengut und Struktur vorhanden ist als für eine Demokratie Gut tut. Die Spaltung zeigt, dass nach Wohnort, Schicht, Bildung und sogar Geschlecht ein überwunden geglaubtes Amerika der Sklavenhalter Spuren zeigt.

Die rotblauen Landkarten der Wahlergebnisse ähneln den Landkarten der kriegführenden Bundesstaaten von 1864. Die Konföderalisten sind heute Republikaner, die Unionisten die Demokraten. Die weißen Flächen waren und sind wenig beteiligt. Die politische Auseinandersetzung wird durch den Wohnort überdeckt. In den Stimmzetteln hat Stadt über Land gesiegt, Slums über Suburbs, Industrie über Landwirtschaft, Vernunft über Gefühl, Harvard über Heritage Foundation, Silicon Valley über die Energieindustrie, der Kongress über Präsident und Senat, Immigranten und Nachfahren der Sklaven über die WASPs (Weißer angelsächsischer Protestanten), Frauen über Männer u.s.w. Die Seiten sind heute so klar geschieden, dass man es eigentlich verstehen könnte.

Doch hat die USA, die ihre Kriege, Boykotte, inneren Einmischungen, Vertragsbrüche und Drohungen gegen andere Staaten mit ihrem überlegenen demokratischen Errungenschaften im Kapitalismus rechtfertigt, dies am Beispiel dieser Wahl gezeigt?

Präsidialdiktatur

In den USA wird alles vom Volke gewählt. Der Präsident (in Deutschland: Bundeskanzler und Bundespräsident in einem): er wird alle 4 Jahre gewählt, die 435 Abgeordneten (+6 ohne Stimmrecht) des Repräsentantenhauses (Bundestag): alle zwei Jahre, die 100 Mitglieder im Senat (Bundesrat) alle sechs Jahre. Die neun Richter des Supreme Court (=Bundesverfassungsgericht + Bundesgerichtshof) ernennt der Senat auf Lebenszeit, die niedrigeren Bundesrichter werden ebenfalls auf Lebenszeit vom Kongress kontrolliert. Die Richter der Einzelstaaten stellen sich dem Volk zur Wahl.

Schon beim Endergebnis erfahren wir, dass die Mehrheit keinen Sieg garantiert. Biden erhielt 78,058,463 Stimmen, Trump nur 72,713,785 Stimmen. Das waren 50,8% zu 47,4% oder 306 zu 232 Wahlleuten. Gleichwohl hätten ca. 100.000 Stimmen mehr für Trump in Georgia, Arizona und Pennsylvania gereicht, um Präsident zu werden. Hillary Clinton musste das 2016 schmerzhaft erfahren. 2,09% Vorsprung vor Trump (48,18%/46,09%) reichten nicht für den Sieg. Im Wahlleutegremium (electoral college) konnte Trump damals daraus eine Mehrheit von 304 zu 277 Wahlleuten den vierprozentigen Vorsprung umdrehen (48%/52%)  und anschließend der Welt zeigen, was ein Präsident in den USA alles allein entscheiden darf. Er hat durch Spontanentschlüsse internationale Abkommen gekündigt, mit persönlichen Schmähungen Personal entlassen und ausgetauscht, die Nationalgarde in Einzelstaaten beordert, Gesetze des Repräsentantenhauses blockiert, eine Mauer an der Grenze gebaut, Schlüsselpositionen mit Familienmitgliedern besetzt, Menschen beleidigt, die Presse geschmäht (fake news), seine Gunst nach Wohlverhalten gegeben, mit @realDonalTrump und 6.695 Tweets und Retweets sein Wahlvolk ins Wohnzimmer verfolgt, in 1.226 Tagen 19.127 Lügen verbreitet und nebenbei 285mal Golf gespielt.

Doch das hat strukturelle Gründe, die nicht erst mit Trump sichtbar werden. In den USA fehlen als korrektiv wie in der EU der Ministerpräsident oder eine Kanzlerin. Es ist eine absolutistische Monarchie ohne Königin und Premierminister aber mit Kronrat. Trump verkörpert alles. Mit seinem Vetorecht und den Verwaltungsanordnungen (administrative orders) verfügt der Präsident über eine vor allem negative Macht des Verhinderns, Blockierens, der Zerstörung, Ausgrenzung und des Aussitzens. Er ist der Diktator im römischen Ausnahmezustand.

Aber hat er wirklich so viel Macht gehabt wie er darzustellen versuchte. War es nicht doch die Gerontokratie aus Republikanern und Demokraten im Kongress, die das System, das an den Rändern wegbrach, durch eine Person retteten, die außer Mundwerk letztlich keine Waffen besaß? Rassismus, Verarmung, Ungesundheitssystem, Klimaerwärmung und Anzettelung heißer und kalter (Bürger)Kriege und Aufstände wie zuletzt in Bolivien sind nicht neu und keine Erfindung von Trump. Sein Kritiker, der jetzt als anständiger Präsident gefeierte George W. Bush hat den ganzen Nahen Osten in Flammen aufgehen lassen. Biden unterstützte ihn damals als wichtiger Senator und mit Obama focht er die Kriege im Jemen, Syrien und Nordirak. Vielleicht ist es eher Unfähigkeit aber unter Trump wurden weniger Kriege angefacht als unter seinen Vorgängern, obwohl auch er mit Drohnen in ihm verbundenen Staaten Feinde ermorden ließ.

House of Lords (Senate)

Die mächtigste Institution im politischen System der USA ist nicht der auf vier Jahre gewählte Präsident, der einmal wiedergewählt werden kann. Es ist der Senat. Er ist dem englischen House of Lords nachgebildet, das mit seinem Ernennungsritus gar nicht erst versucht, demokratisch auszusehen. Dafür hat es aber auch keine Macht. Ähnlich ergeht es den Senaten in Frankreich und Italien. Anders die EU. Sie hat die USA imitiert und mit dem Parlament ein machtloses „House“ und dem allmächtigen Ministerrat den Senat der USA kopiert, auch wenn bei gewissen Fragen dessen Stimmen eine Mindestanzahl von Bürgern repräsentieren müssen.

Hundert Senatoren im US-Senat sind überschaubar wie eine große Familie und für Seilschaften und Beziehungen gemacht. Das Gremium hat eine vordemokratische Aura. Seine Mitglieder haben Anspruch auf den Titel „Euer Ehren“ (Honorable). Der dienstältere Senator eines Staates ist jeweils der „senior senator“. Vorsitzender ist der vom Präsident ausgesuchte Vizepräsident der USA kraft Amtes. Bei Stimmengleichheit ist er oder sie stimmberechtigt. Der Senat ist de facto Arbeitgeber des Präsidenten. Er kann (unter Vorsitz des obersten Richters) auf Antrag des Repräsentantenhauses mit 2/3 Mehrheit den Präsidenten seines Amtes entheben. Präsident und Senat bilden bei der Personalauswahl eine Einheit. Aus dem Senat kommen vor allem die Präsidenten der demokratischen Partei wie Biden, Obama, Carter, Kennedy und Johnson.

Die Senatoren haben Statusrechte. Gewählt werden die Honorablen auf sechs Jahre, so lange wie wohl in keinem anderen Parlament der Welt. Sie können beliebig wiedergewählt werden. Der gerade wiedergewählte Mitch McConnell ist seit 16 Jahren Führer der republikanischen Mehrheitsfraktion im Senat.  Alle 2 Jahre wird ein Drittel der Mitglieder neu gewählt. Das verdeckt die überlange Amtszeit.

Doch wenn Demokratie etwas mit Wahlen zu tun hat, dann ist der Senat nichts Anderes als das House of Lords seines ehemaligen Kolonialherren. Vom 579.679 Einwohner-Land Wyoming bis zum 66fachen der 38.421.464 Kalifornier hat jedes Land zwei Stimmen. Beide erhält die Partei, die jeweils die Mehrheit der Stimmen hat. Die Minderheit ist nicht vertreten.

5,3% reichen zur Mehrheit

Das lässt sich rechnerisch darstellen. Zur Vereinfachung der Daten nehmen wir in den Relationen die Bevölkerungszahl inkl. der unter 18Jährigen und Nicht-Wähler, deren Anteil im Wesentlichen in den Staaten gleich sein dürfte. Nach der Wahlordnung genügt den 75 Senatoren und 25 Senatorinnen die Hälfte der abgegebenen Stimmen in ihrem jeweiligen Staat. In Wyoming reichen 260 Tsd. in Kalifornien müssen es für 2 Stimmen 19,2 Mio. sein.

Die 25 kleinsten Staaten, die mit Vizepräsident die Mehrheit im Senat stellen könnten, vertreten zusammen 16% der Bevölkerung. Es sind überwiegend ländliche Staaten. Sie können mit der Hälfte ihrer Stimmen also mit 8% diese Mehrheit erreichen. Da genau ein Drittel der Amerikaner nicht zur Wahl gehen, reichen somit 5,3%. Die übrigen 94,7% der Bevölkerung (264 Mio.) könnten das selbst dann, wenn sie geschlossen für die Senatoren einer Partei stimmen würden, nicht verhindern. Das ist natürlich utopisch zeigt aber welche Spannweite von der Demokratie zur Diktatur im Senat möglich ist. Der Vergleich mit den 204 Mitgliedern im Zentralkomitee der KP-China erscheint weniger absurd als angenommen.

In der nachfolgenden Grafik sind die Bevölkerungszahlen aller 50 Staat eingetragen und der Kurve der Sitze im Senat entgegengestellt.

USA, das veraltete Vorbild

Die Republik der USA hat wie viele ehemalige Kolonien die Strukturen ihrer Kolonialmacht England weniger politisch als kulturell hinter sich gelassen. Königtum, Mehrheitswahlrecht, Staatsversagen, Balance of Power machen sie, und das zeigt das Trump-Regime bis zuletzt, zu einem wankelmütigen Partner. Gleichwohl hat die EU nicht zuletzt befördert durch die englische Sprachdominanz sich an diesem Duo orientiert. Die gröbste Dummheit aus den USA hatte kraft ihrer universell zugänglichen Formulierung immer noch eine größere Ausstrahlung als die Diplome auf dem Kontinent.

Das Vereinigte Königreich hat die EU verlassen. Die USA haben sich selber abgebaut dabei aber eine Transparenz entwickelt, wie sie kaum ein Präsident vorher zuließ. Trump ist mehr Amerika als uns lieb ist.

Es ist ein Witz, dass gerade Amerikaner und Engländer nach 1945 in ihrem Besatzungsbereich ein System verlangten und ein Grundgesetz genehmigten, das so viel demokratischer ist als ihr eigenes. Alle Macht liegt beim Parlament, das demokratisch nach Regeln des Verhältniswahlrechts Mehrheiten erzeugt, die die Bevölkerung spiegeln. Die politische Führung durch die Bundeskanzlerin wird gewählt. Der Präsident repräsentiert ohne Macht. Die Ländervertretung im Bundesrat ist schwach. Sie spiegelt zwar nicht die Bevölkerung, verteilt aber 3 – 6 Stimmen, je nach deren Größe. Sie hat weniger Sitze (69) als der Senat und gibt den vier Bevölkerungsreichsten Staaten immerhin 24 Stimmen. Der Bundesrat ist auf seine Rolle als Ländervertreter festgelegt, kann den Bund nicht mitregieren und muss die Macht seiner Länder im Parlament entfalten.

Wenn man so den Ministerrat der EU strukturieren würde, wäre viel gewonnen.

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