Volk statt Nation?
Populismus bedroht die westliche Form der Demokratie. Grölende Massen, dummdreiste Führer – sie vertragen sich nicht mit der Idee, dass das Volk aus Individuen besteht, die einschließlich seiner Minderheiten und Andersgesinnten bestimmt, was in einer Gesellschaft geschieht. Dabei beziehen sich Populisten und Demokraten nur in jeweils anderen Sprachen auf das Volk. Populus ist das Wort für Volk in Latein, das die Griechen als demos bezeichneten. Beide nährten sich von der Idee, dass die Einheit im Staat durch Abstammung und Blutsbande hergestellt würde, mit der Entscheidung des einzelnen also nichts zu tun hatte. Man gehörte dazu oder war Außenstehender. Das Alte Testament erzählt die Geschichte der Juden aus dieser Perspektive.
Anders dagegen die modernen Demokratien. In der französischen Revolution sowie der glorious revolution der USA wurde das Volk durch die Nation ersetzt. Dazu gehörte, wer dort geboren wurde. Eine Nation bestand aus den Menschen, die unter einheitlicher Herrschaft lebten und arbeiteten. Die Nation war damit die Chance, ohne Unterdrückung Vielvölkerstaaten zu bilden, die in extremer Vielschichtigkeit sich im 19. Jahrhundert in Italien, Spanien, Deutschland und der USA gebildet hatten. Die USA hat nie als Volk, sondern nur als Nation existiert. Die Europäische Union wird daher auch nur als Nation und nicht als Volk eine Chance haben.
Das Volk ist daher Gemeinschaft. Sie bestimmt, soweit es für sie nützlich oder erforderlich erscheint, Handeln und Denken des einzelnen. Dagegen ist die Nation eine Gesellschaft, bei der der einzelne durch Kooperation die Möglichkeiten für das Ganze schafft. Populisten sind daher nicht national, sondern völkisch, Nationalisten wollen dagegen die demokratische Gesellschaft zur Grundlage nehmen. Internationalisten vermitteln „zwischen“ (lat. inter) den Nationen, die sich mit der Schaffung übergeordneter Einheiten zu einer größeren Nation entwickeln können. Föderalismus und Wirtschaftsunion von Staaten sind daher keine Gemeinschaft, sondern eine Union von Nationen über die historischen Grenzen der Gemeinschaften hinaus. Was intern gilt, gilt auch nach außen. Kriege sind eigentlich überflüssig geworden.
Das Volk der Populisten
Das sehen die Populisten anders. Trump, Duerte, Erdogan, Salvini, Orban, Bolsonaro, Johnson – die neue Kaste rechter Demagogen wendet sich wie vor 100 Jahren direkt an das Volk – und hat Erfolg. Des Volkes Wille geschehe, aber nicht durch Wahlen und Abstimmungen, sondern durch Aufbau einer Gemeinschaft der Willigen, Rechtschaffenden, Anständigen. Die Wertegemeinschaft verdrängt das Interessenkollektiv. Man vermittelt ein Wir-Gefühl, das aus dem Bauch statt aus dem Kopf kommt. Man ist gegen Migranten, Schurkenstaaten, Drogendealer, Minderheiten, Flüchtlinge, Kommunisten, Schwache, Politiker und „die Anderen“. Demokratie ist bürokratisch, Politik schmutzig. Wut, Aggression, Identitätsverlust, Frust wenden sich nicht mehr gegen das Problem und seine Verursacher, sondern gegen die Überbringer schlechter Nachrichten. Klimawandel, Ebola, Feinstaub, verschmutztes Wasser, unerschwinglicher Wohnraum, Müllberge, atomare Bedrohung, Terror, Sturmfluten, Eisschmelze, Plastikozeane – alles Fakenews der Systempresse. Man will nichts hören, sehen, lesen und die Mauer eigener Unfähigkeit an die Außengrenzen der Problemzonen verlagern. Schon König David erschlug den Boten, der ihm den Tod Absaloms meldete.
Vor 100 Jahren breitete sich der Faschismus wie ein Schneeballsystem in Europa aus. Militärdiktaturen, Terrormilizen gepaart mit der Herrschaft von Lügnern und Idioten: Hitler und Mussolini als beschränkte Hampelmänner kapitalistischer Raubritter. Ihre Überzeugungskraft kam nicht aus der Wahrheit und Nachvollziehbarkeit, sondern aus der Nützlichkeit ihrer Anschauungen für die Bildung einer Gemeinschaft in einer Gesellschaft, die die Überwindung der feudalen Gemeinschaften schon vollendet glaubte. Populisten lügen nicht. Sie sagen nur die Unwahrheit, die sie als Wahrheit so sehen. Aufklärung hilft nicht.
Gemeinschaft durch Feindschaft
Ihr wichtigstes Prinzip hat Carl Schmitt, der Präsident der Nazi-Hochschullehrerschaft, seinen NS-Kollegen ins Poesiealbum geschrieben: „Gemeinschaft durch Feindschaft“. Das Wir-Gefühl braucht den Feind. Das zerstrittene Ehepaar schafft sich Erleichterung durch Krieg mit den Nachbarn. Es ist ein uraltes Raubritterprinzip. Man bereichert sich bei den Schwächeren, weil, so muss es sein, sie unsere Arbeitsplätze, Kultur und Familie bedrohen. Deshalb haben sie keine Rechte. Sie werden nicht ausgeschlossen, weil sie Feinde sind, sondern sie sind Feinde, weil man sie ausschließen muss, um sein Wir zu finden.
Während man dem Volk für seine Hingabe an den Krieg alles verspricht, bedienen sich die Drahtzieher selber und finden die Führer ab. Göring und Stinnes verkörperten diesen Dualismus. Berlusconi, Trump, Perot, Pinera, Poroschenko, Iwanischwili, Shinawatra, Bin Salman vereinen heute als Milliardärspräsidenten beides in einer Person. Dem Volk wird der Gemeinnutz verordnet, den Populisten der Eigennutz gestattet. Krieg legitimiert Führer und Unterordnung. Die Römer suspendierten in Kriegszeiten ihre Stadtdemokratie und wählten den Diktator. Gewalt ersetzt das gemeinsame Interesse der Gesellschaft. Kompromisse, Verhandlungen und Abkommen stören. Im Kriegsfieber verlieren Standgerichte und Todesstrafe, Massengefängnisse und Milizen schon vor der heißen Phase ihren Bezug zur Moral. Alles ist Notwehr. Die verordnete Bedrohung ist allgegenwärtig.
Populisten sind daher auch Waffennarren und Abrissspezialisten. Ihre bescheidenen analytischen Fähigkeiten sind notwendiger Schutz vor rationaler Auseinandersetzung. Gewalt gegen Bootflüchtlinge, Erschießung von Drogendealern, Massenverhaftungen der Intelligenz, Internierungslager für Kinder, Einsatz ferngesteuerter Killer-Drohnen, Aufrüstung, Kriegsdrohungen und Bewaffnung. Ihre starken Männer „halten“ sich Frauen und Kinder. Religiöse Sekten als gewinnträchtige Unternehmen bilden den Doppelstaat zwischen Bürgerkriegsbewegung und Ordnungsmacht im Kleinen ab. Sie greifen ideologisch auf das zurück, was die Kirchen im Kolonialismus den Ausgebeuteten und Sklaven gepredigt hatten.
Die liberale Arroganz
Das sieht alles wie ein Irrtum aus. Sozialdemokraten und Grüne, Liberals, Labour und Democrats, Kulturschaffende, CNN, BBC und ARD, Harvard-Professoren, Exzellenz-Universitäten, New Yorker und Kalifornier, Hamburger, Berliner und Münchener Akademiker sind nach dem Grad ihrer Empathiefähigkeit belustigt oder angewidert, fühlen sich aber ohnmächtig. Sie flüchten in gated communities, monolithische Stadtbezirke und brechen den Kontakt zum „Volk“ ab. Man war doch nach 68 so gut dabei, die letzten Bastionen formaler Ungleichheit bei Frauenrechten, Steuergerechtigkeit, Mafia, Werbung, sexueller Orientierung und Internet zu begradigen, sich für Massenmorde zu entschuldigen, Atomstrom und Pershing in andere Länder zu verbannen und damit eine freiheitlich demokratische Grundordnung mit allen Vorteilen für Gebildete, Begüterte und Begnadete, für Reise- und Sprachgewandte durchzusetzen und damit die Segnungen des Kapitalismus in der ersten und zweiten Welt bis hinunter zum dritten Quintel des Volkes zu erweitern. Ungläubig quittiert man die Statistiken, wonach die Gegensätze sich insgesamt verschärft haben sollen und kann dies im eigenen Umfeld nicht nachvollziehen.
Doch genau dann bevölkert ein Heer von fettleibigen dumpfen hinterwäldlerischen Tölpeln und Trampeln die Straße und die Wahlkampfarenen der Populisten, um im Namen von Anstand, Ehrlichkeit und Nationalstolz zur Verteidigung der Gartenzwerge aufzurufen. Die Nachrichten werden von einem Twitteraccount sowie YouTube Videos ähnlichen Kalibers befüllt. Informationen zur Bewältigung der großen strukturellen Probleme gibt es allenfalls noch auf dem Web. Nachrichten sind zum Reality-TV geworden, das in der Konkurrenz zu Krimis, tödlichen Wettkämpfen, Westernshootings oder Komödien und Tragödien die Oberhand gewinnt. Kann man dies in der Realität inszenieren, so braucht man keine block buster mehr. Es bleibt als Ausweg nur zu isolieren, ignorieren und zu konzentrieren. Die soziale Landkarte der USA ist bereits flurbereinigt. Blau (Democrats) und Rot (Republicans) trennen die blaue West- und Ostküste von Restamerikas. In Europa sind wir dahin auch auf schlechtem Wege. In der EU differenzieren wir das Großmacht-Duo von den Plänen für Kerneuropa, Schuldner- und Gläubigerländern und schließlich der Mitgliedschaft im Euro. Innerhalb der Staaten zeigen z.B. die jährlichen Überschuldungsatlanten ebenso in Rot und Blau, wie weit die Teilung vorangeschritten ist. Gemeinschaftsgefühle können daher nur in Blau entstehen. Die Roten sind abgehängt.
Demokratie ohne Volk?
Demokratie verlangt anderes. Auch die gewählten und rationalen Herrscher des Volkes können sich nicht das Volk ihrer Herrschaft auswählen. Vertreten sie nur ihre Wähler so wird das Konzept der Demokratie durch Aristrokratie (Wohlgeborene), Meritokratie (Eliten) oder Ideologkratie (Gleichgesinnte) ersetzt. Die Gartenzwerge gehören zum Volk. Wer sich zu diesem Gedanken nicht herablässt, dem zeigen ihre Führer, dass sie nicht alleine sind. Wer Hitler als großen Diktator ebenso wie den clownesken Mussolini dem Spott anheimgibt und sie für Hampelmänner hält, hat ihren Platz im System des Massenmordes verpasst. Wer den Aufstieg von Talkshow-Mastern, Comedians und Schauspielern zu Volksführern und Präsidenten nicht damit in Verbindung bringt, dass ein relevanter Teil des Volkes von Politik nur noch unterhalten, in seiner Ignoranz respektiert und nicht zu politischem Engagement gefordert werden will, der wird die Selbststeuerungsfähigkeit der Gesellschaft durch freie Individuen nicht verteidigen können. Demokratie ist national, nie völkisch. Sie baut auf allen Individuen auf, die in einem Staat leben und daran mitwirken. Dass dies Ziel in der Praxis verweigert, vereitelt und verhöhnt wird macht das Unvollständige dieser Demokratie aus, die sich als zweieiiger Zwilling mit dem Kapitalismus entwickelt hat. Doch der demokratischen Gleichheit setzt der Kapitalismus ökonomisch das Monopol auf Kosten der Mitbewerber entgegen. Er ersetzt die feudale Statusgesellschaft politisch durch Demokratie, nutzt jedoch zumindest in der Großindustrie die Hierarchie der Gemeinschaften. Demokratie braucht dagegen gesellschaftliches Denken.
Der Mensch hat von Natur her beide Bedürfnisse: sich als Individuum frei zu entfalten und zugleich einer Gemeinschaft anzugehören. Sie soll ihm das Gefühl der Geborgenheit vermitteln, das die Bedrohungen durch Tod, Krankheit, Trennung, Arbeitslosigkeit, Insolvenz, Armut und Einsamkeit erträglich macht. Doch von der Arbeitsteilung angetrieben zerschneiden Vergesellschaftung und Globalisierung die letzten buntscheckigen Bande feudaler Gemeinschaften.
Feindbilder sind universelle Denkmuster
Populistisches und damit völkisches Denken schafft Gemeinschaft durch Feindschaft. Menschliche Nähe wird aus den militärischen Anforderungen eines Krieges abgeleitet. Legitimiert wird dies dadurch, dass die selbstauferlegte Feindschaft vom (eingebildeten) Feind erzwungen ist. Mit Provokationen, Drohungen, Schmähungen und Entwürdigung schaffen Populisten Abwehrreaktionen bei den zu Feinden erklärten, die als Angriff interpretiert werden können. Dann bedrohen der Iran oder Nordkorea die USA. Mit der Feindbeziehung lassen sich auch Freunde erpressen. „Willst Du nicht mein Bruder sein, so schlag ich Dir den Schädel ein“ skandierten die Nazis. Das Schwarz-Weiß-Schema erleichtert den Umgang mit jedwedem Problem. Probleme sind vom Feind gemacht, die Lösung ist daher seine Ausschaltung oder Unterwerfung. Jubelnd zog man in die Weltkriege. Doch die amerikanischen Abenteuer sind nicht gut ausgegangen. Man zieht das Leben unter Kriegsdrohung dem Krieg vor. Das haben Terroristen und Hasstäter nicht verstanden. Sie nehmen das Feindbild ernst und wollen der damit gebildeten Gemeinschaft einen Dienst erweisen. Nicht umsonst glaubten die drei jungen Erwachsenen des NSU, dass sie im Namen der Gemeinschaft handelten.
Die Primitivität, mit der über Twitter oder in Massenaufmärschen die Führer populistischer Bewegungen auftreten, ist daher nicht Ausdruck ihrer Dummheit, sondern Element des Angebots, mit dem sie ein Gemeinschaftsgefühl verkaufen. Es hilft den Populisten also, wenn sie nichts Anderes können, als in dieser antagonistischen Form die Welt zu erklären. Das dichotomische Weltbild von Reich und Arm, denen da oben und uns da unten, den Anderen und den Unsrigen, den Ausländern und den Deutschen, den Schwarzen und den Weißen, den Faulen und den Fleißigen entlastet. Man braucht dann keine Menschen mehr wahrzunehmen, die weder reich noch arm sind. Das Bild der Anderen und Fremden muss man nicht durch Wissbegier auflösen.Dass die da oben oft auch unten sind, wenn es die Situation gebietet, geht im Mangel an Differenzierung unter. Mulatten sind dann eben Farbige und Farbige schwarz. Der Fleiß der Immigranten, die zur Arbeitslosigkeit verdammt sind, passt dann nicht ins Bild der Sozialschmarotzer. Es reicht aus,, Freund und Feind als Gegensätze begreifen zu können. Dabei hatten die Deutschen die Chance, aus zwei Weltkriegen zu lernen, wie so etwas anfängt und wohin es führt. Sie könnten sogar Vorbild sein. Gegenüber dem Versuch der US-Politk, ihre mit dem Niedergang ihrer Renditen auseinanderbrechende Gesellschaft mit agressiven Militär-, Handels- und Flüchtlingspolitik nach außen durch Feindbilder zu einer undemokratischen Gemeinschaft zusammenzuschweißen, könnte man im Gegensatz zu Großbritannien insoweit der deutschen Reaktion ein gutes Zeugnis ausstellen.
Völkische und demokratische Gemeinschaften
Gemeinschaft ist ein Gefühl, Gesellschaft ist ein Verhaltensmuster. Gemeinschaften haben keine immer wiederkehrende Struktur, sondern nur eine gemeinsame Wirkung. Gemeinschaftsgefühle konnte die SS, eine Strafkompanie ebenso wie eine Pfadfindergruppe oder eine Religionsgruppe entwickeln. Volks-, Betriebs- und eheliche Lebensgemeinschaft gibt es daher auch nicht objektiv. Sie bilden eine Gemeinschaft nur, wo sie von einem Gefühl der Zugehörigkeit getragen werden. Gemeinschaften können daher demokratisch, feudal, sozialistisch, religiös oder durch Kriegsführung gebildet werden. Sie verlangen nicht mehr als eine Verbindung des einzelnen zum Ganzen. Diese Verbindung wird einverständlich oder zentral durch Ideologie, Religion, Moral, Unterwerfung oder Gewalt vermittelt. Die Errungenschaft der bürgerlichen Revolution ist daher nicht die Überwindung der individualfeindlichen Gemeinschaftsideologie („Einer-für-Alle, Alle für Einen“. „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“), sondern die Erkenntnis, dass mit ihr eine Gemeinschaft nicht mehr an sich legitim ist. Sie ist nur noch gerechtfertigt, wo sie demokratisch strukturiert ist. Gesellschaft bekennt sich dazu, dass die Freiheit des einzelnen nur durch die Rechte anderer sowie die allgemeinen Interessen begrenzt ist. Sie ist interessenbezogen und damit der Struktur nach ein Kollektiv. Gemeinschaften müssen daher nicht bekämpft, sondern demokratisiert werden. Das hatte man nach dem Krieg erkannt, als man den Parteienstaat unverrückbar an die Stelle von Führerstaat, Monarchie und Präsidialsystem setzte und dabei eine innerparteiliche Demokratie verlangte.
Undemokratische Gemeinschaften
Dies stört die Populisten. Wahlverfahren als Blockwahl, Machtaufstände und selbsternannte Gurus, offene Absage an Menschenrechte und Demokratie, Rassismus und Amtsanmaßung. Selbst der Begriff der Partei wird gemieden. Sie sind eine „Bewegung“ (Movi(e)mento), eine „Front“. Sie wollen die Gemeinschaft an sich – unpolitisch und alternativlos. Diese Gemeinschaft lebt von der Einheit, die nicht durch Abstammung oder Aufenthaltsort vorgegeben, sondern durch die bedingungslose Unterwerfung künstlich erzeugt ist. Die Führer sind die Einheit. Man braucht daher Populisten. Die spanische Falange (Phalanx), die italienischen Faschisten (fascis) und die Volksgemeinschaft der Nazis wurden zum Wert an sich, der in den Begriffen Volksgerichtshof, Volksgenosse, Volksschädling, Volksfremder oder Völkischer Beobachter zum Zentralbegriff der NS-Ideologie wurde.
Die Populisten sprachen diejenigen an, die keine intellektuellen und sozialen Möglichkeiten gefunden hatten, die entbehrten Gemeinschaftsgefühle erlebt und Erfahrungen in demokratischen Strukturen gemacht zu haben. Die Entfremdung, die mit der fortschreitenden Arbeitsteilung systemunabhängig zunehmen muss, wird im Feindbild genutzt. Das objektiv Verlorene soll wiederkehren. Der Märchenkönig von Bayern, der Status von Beamten, Lehrern, Richtern und Militär soll ebenso wie die familiäre Schutzhaft für Frauen und Töchter gegen ausländische Vergewaltiger wiederhergestellt werden.
Populismus als Bedürfnis
Die Sehnsucht nach Gemeinschaftsgefühlen, wie sie in der Spätromantik Richard Wagners am Vorabend der Weltkriege zur Kunstgattung wurde, entspringt einem realen Bedürfnis. Nur die Mittel zu ihrer Befriedigung sind geschwunden. Die Familienmitglieder verlassen die gemeinsame Wohnung, die Betriebsgemeinschaft wird durch Versetzung und Anreizsysteme zerstört, Gewerkschaften sind nur noch Dienstleister, Sportvereine passen sich gemeinschaftsfreien Fitness-Centern an, in den Schulen wird das Klassenprinzip vom Kurssystem abgelöst, emotional gemeinschaftsfördernde Fächer wie Sport, Musik, Kunst, Werken werden abgebaut, die Universitäten degenerieren zu Studienfabriken, die die Arbeitskräfte produktionstauglich anliefern. Verdienst und Geldanhäufung haben als Studienziel Entdecken und Verstehen verdrängt. Der Jurastudent weiß nicht mehr was Recht oder Gerechtigkeit ist, der Mediziner nicht, wie er Gesundheit beschreiben soll. Kreatives Lernen in Gruppen findet im Prüfungsmarathon der Massenfächer keinen Raum mehr. Fußball hat sich vom Rasenplatz weg hinter den Bildschirm zu Hause verlagert. Das individuelle Interesse im Breitensport wird durch das künstliche Gemeinschaftsgefühl in den Fan-Clubs verdrängt.
Was tun?
Wollen wir den Populisten das Wasser abgraben, dann müssen wir die Freude am Leben neu lernen, die in den entwickelten Industrienationen dramatisch abgenommen hat. Ausgerechnet die Migranten sind hier eine Chance. Ihre Fähigkeit zum Feiern, Essen, Musizieren und Tanzen wäre ein ideales Lernprogramm. Während wir unsere ganze Aufmerksamkeit dem Alter schenken und damit dem Leben mehr Tage hinzufügen wollen, ginge es darum den Tagen mehr Leben einzuflößen.
Schaffen wir Gemeinschaftsgefühle im unmittelbaren Kontakt der Menschen in der Arbeit, am Wochenende, im Wohnumfeld. Dafür brauchen die Menschen Zeit, Siedlungsformen und eine menschliche Infrastruktur, die der Markt von sich aus nicht bieten kann. Die Share Economy enthält Ansätze, wie die Entfremdung über kollektives Nutzen von Ressourcen überwunden werden könnte. Zugleich ist sie jedoch dabei, auch diese Chance dem individuellen Gewinninteresse unterzuordnen.
Die Wiege der Populisten war von jeher der isoliert arbeitende Kleinunternehmer, Selbständige und Bauer. Die wirtschaftliche Konzentration hat sie zu Zulieferern und Lückenfüllern degradiert, aufs Land vertrieben und die Perspektive geraubt. Sie geben denjenigen, die aus ganz anderen Gründen in der abhängigen Beschäftigung keine Perspektive mehr haben, eine Identifikationsmöglichkeit. Aus der realen Mittelschicht wird so der ideologisch gebildete Mittelstand. Eine Politik für die Mittelschicht müsste Kooperationschancen für Selbständige und ihren dem Verbraucherschutz vergleichbaren Schutz vor der Großindustrie schaffen. Die Aufgabe dazu liegt bei den Ländern und Gemeinden und nicht in Berlin. Die Gemeinschaften leben jedoch vom persönlichen Kontakt und damit vor Ort, statt in den Stadien und Umfragen. Es gibt also nicht zu viel, sondern zu wenig national gesinnte Menschen und Politiker. Der aktuelle Zug zum Zentralismus in Kultur und Bildung geht in die umgekehrte Richtung.
Wer deutsche Kultur kennt und genießt, sollte ohne Arroganz die um sich greifende Gartenzwergkultur bereichern. Sprachlich sollten wir das Völkische auch als solches benennen und unser unkritisches Lob für jedwede Gemeinschaftsbildung überdenken. Die Nato als Verteidigungsgemeinschaft sikkte wie im ebgkuscgeb Original als Bündnis bezeichnet werden, die Versicherten statt als Versichertengemeinschaft als Kundenstamm, die Kirchen als Kirchen und nicht als Religionsgemeinschaften. Das Recht auf Gemeinschaft in kollektiven Prozessen sollte formal und materiell gesichert werden. Zigtausende leer stehender Kirchen stünden zur Verfügung. Helfen kann eine Rehabilitation des Begriffs des Kollektivs, den der Stalinismus für seine hierarchische Vergemeinschaftung diskreditierte. Die kollektive und demokratische Gemeinschaft wäre das Ziel, den gefährlichen Tendenzen des Populismus entgegenzuwirken.
Dafür brauchen wir nach 1968 auch eine zweite Bildungsrevolution, die die Freude am Lernen und den Erkenntnisgewinn dem Geldprofit entgegenstellt, Gruppenarbeit als Gemeinschaftserlebnis erlaubt und in den Schulen das Fridays For Future Erlebnis dem kleinkarierten Anpassungslernen an die kapitalistischen Anforderungen einer sog. „digitalen Revolution“ entgegensetzt, die nach Druckmaschine, Telefon und Rundfunk letztlich nichts Anderes ist, als die Entstehung eines weiteren Werkzeug für die Kommunikation zwischen den Menschen. Sie trägt nichts zu dem bei, was wir an Inhalten kommunizieren. Sie macht alles nur schneller und steuerbarer raubt aber den Menschen mit ihren Einübungserfordernissen die Zeit zum Denken und echter Kommunikation. Die Spielkonsole ist insoweit nur der sichtbare Ausdruck dessen, was die digitale Revolution und die unechte (künstliche) Intelligenz anbieten können.
Es ist nicht die Dummheit der Populisten, die uns ruiniert. Es ist die eindimensionale Ausrichtung unserer Wirtschaft udn Gesellschaft, die eine viel größere Dummheit belohnt: die Erhebung des Geldes zum Maßstab aller Dinge und zum Ersatz für das, was nur die Gemeinschaft mit anderen schaffen kann: das Gefühl des Geliebt Seins, der Anerkennung und des gegenseitigen Respekts. (Mehr dazu bei Reifner, Das Geld, Bd. 1-3, Springer 2017)