„Die Sprache des Kapitalismus“
Sahner/Stähr wollen mit ihrem Buch „die Sprache des Kapitalismus“ (S. Fischer, 304 S., 24 €) verändern. Deren Wortgebrauch verhindere, dass zur wachsenden Ungleichheit und den vom Kapitalismus beförderten ökologischen Katastrophen keine Alternativen entwickelt würden. Dass „Preise steigen“ und „Energiemärkte unruhig“ werden, „verschleiere Zusammenhänge und schiebe Verantwortung von Menschen weg. Finanzkrisen würden zu Naturkatastrophen erklärt.“ Christian Lindner erfinde eine Gratismentalität bei den Armen, obwohl sie tatsächlich mehr Steuern zahlten als die Reichen. Radikal kapitalismuskritische Filme verstärkten das Bewusstsein der Alternativlosigkeit. Man müsse, um den Kapitalismus zu überwinden, nicht einmal dessen Wortschatz ändern, sondern nur die Worte der Reflektion öffnen. Mario Draghis Rede als EZB-Präsident zur Krise 2012, man werde alles Notwendige tun, habe die Finanzmärkte innerhalb von 10 Minuten beruhigt. So könne reflektierte Sprache eine postkapitalistische Realität schaffen.
Der Kapitalismus als Subjekt
Werden diese Kritiker ihrem eigenen Anspruch gerecht? Schon im Titel wird der Kapitalismus von einer Toolbox zum Subjekt. Er verfügt danach wie ein Mensch über eine eigene Sprache und bestimmt die anderen. Marx ließ dies nur für das Kapital gelten. Ansonsten war Kapitalismus für ihn eine Methode des Wirtschaftens. Und ist Wettbewerb wirklich kapitalistisch? Ihn kannten schon die Olympioniken der Antike. Märkte gab es auch seit Geld existiert. Steigende Preise sind auch nicht neu. Erhöhen die Menschen die Preise, so „steigen“ sie grammatisch korrekt so wie Wut, Blutdruck oder die angezeigte Temperatur auf dem Thermometer, auch wenn der Klimawandel, der dies bewirkt, menschengemacht ist. Sahner/Stähr halten den Kapitalismus indirekt sogar für sterblich. Habe man ihn erst einmal in der Sprache überwunden so würden sich in der freigesetzten Sprache allmähhlich Alternativen bilden. Nach 30-50 Jahren könne es dann sogar unbemerkt den (guten) „Postkapitalismus“ geben.
Postkapitalismus als Schimäre
Die entscheidenden Fragen bleiben offen. Wie wird der Postkapitalismus aussehen? Was sind die unterdrückten Alternativen, nachdem sich der reale Sozialismus als Schimäre herausgebildet hat? Wer wird dies befördern? Geht es friedlich durch Überzeugung oder wird dazu Krieg und Gewalt notwendig?
Die Autoren fügen sich in die Tradition der Entlarvung von Freiheit, Gleichheit und Sicherheit unter dem Zepter des Privateigentums an Produktionsmitteln eine empörende Verdrehung der realen Machtverhältnisse in der Gesellschaft darstellt. Erkennen die doppelt freien Lohnarbeiter dies als Lüge über ihre tatsächliche Ausbeutung und Verarmung, so werden sich die Verhältnisse ändern. Was Marx und Lenin als Klassenkampf erwarteten, wird hier in eine Bewusstseinsveränderung über Sprache verlagert. Das hat Vorteile. Klassenkampf und Gewalt sind unnötig, wie schon in der kritischen Theorie werden die Theoretiker selber zu den wichtigsten Systemveränderern, die den politischen Kampf zwischen den verschiedenen Interessengruppen überflüssig machen.
Das Konzept ist nicht neu. Marx hat mit dem Begriff des Warenfetischismus Theorien Vorschub geleistet, die das Problem des Kapitalismus auf eine Verkehrung der realen Verhältnisse im Bewusstsein der Bevölkerung reduzierten, das man nur entlarven brauche. Allerdings bleibt dabei offen, wer Recht hat. Das Gehampel am Ende des Films „1900“ von Bertolucci zwischen dem Alfredo und Olmo wird ewig fruchtlos. Es geht nicht dann nicht mehr um das bessere Leben, sondern die bessere Theorie.
Der andere Kapitalismus
- Wirtschaft ist jede Kooperation zwischen Menschen zur Erzielung eines über die Arbeitsergebnisse der einzelnen hinausgehenden je anders definierten und gemessenen Gewinn.
- Kapitalismus bezeichnet nur eine Form der durch die Existenz des Geldes bestimmten Wirtschaftsweise. Zahlung, Wertaufbewahrung und Quantifizierung sind dessen Grundbedingungen.
- Als Geldwirtschaft trägt der Kapitalismus zur konkurrenzlos schnellen wie innovativen Vergesellschaftung von Produktion, Distribution und Konsum der für die Menschen notwendigen Güter und Dienstleistungen bei.
- Wie jede Geldwirtschaft muss dafür in möglichst zentraler Form Geldfreiheit (Vertragsfreiheit), Geldverfügbarkeit (Eigentum), Geldsicherheit (staatliche Gewalt) und Geldgleichheit (Währung) gegeben sein.
- Diese Geldfunktionen müssen durch eine gesellschaftliche Organisation der Machtverhältnisse gewährleistet sein. Dabei konkurrieren historisch politische Systeme wie Fremdherrschaft, Diktatur, Feudalismus und Staatssozialismus mit dem Kapitalismus.
- Die meisten der dem Kapitalismus zugeschriebenen Nachteile wie Entfremdung, Begünstigung, Korruption, Konkurrenz, Egoismus, Individualismus ergeben sich bereits aus der Geldwirtschaft an sich. Man kann sie nicht aufheben, nur lindern.
- Der Kapitalismus ist dabei nicht einmal ein schlechtes System. Er verwirklicht seine wirtschaftlichen Werte der Gleichheit, Freiheit, Sicherheit, Rechts- und Sozialstaatlichkeit sowie des Eigentums ganz überwiegend mit dem Geld. Sein politisches System hat sich dadurch als das produktivste Wirtschaftssystem erwiesen.
Gewinn oder Nutzen?
- Das letztlich einzige Unterscheidungsmerkmal zwischen kapitalistischen und anderen Geldsystemen liegt in der Radikalität, mit der der Geldgedanke die Definition des Gewinns beherrscht und gerade, weil er unbewusst bleiben kann sich immer wieder auf Bereiche ausdehnt, in denen eine alternative Gewinndefinition herrschen sollte. Im Bewusstsein der Menschen (Unternehmer, Arbeitnehmer, Verbraucher) ist Geld nicht mehr Mittel zur Gewinnerzielung, sondern selbst zum Zweck des Wirtschaftens geworden.
- Der Preis dieser Vereinfachung und Beschleunigung von Zusammenarbeit ist die Reduktion des Anspruchs auf gesellschaftlich bestimmte Gerechtigkeit zwischen Menschen auf die gleiche Freiheit nach dem Eigentum. Im Prinzip verdient sich das Geld selber (als Kapital) ohne Pflicht zum allgemeinen Nutzen. Dies ist nicht sympathisch aber effektiv. Die Menschen müssen nicht verstehen, was ihr Tun bedeutet.
- Dadurch gefährdet das kapitalistische Gewinnverständnis gleichwohl immer wieder den Zusammenhalt. Tausende von Korrekturen minimieren daher die Effekte der Maximierung von Geldgewinn. Renten- und Steuersysteme, Unterhaltspflichten und Solidarität, ein größer werdender gemeinnütziger und öffentlicher Wirtschaftssektor mit alternativen Gewinndefinitionen sollen das System akzeptabel erhalten. Doch das Geld hierfür wird knapp. Monopol- und Kolonialgewinne nehmen ab. Internationaler Wettbewerb, Kriege und Naturkatastrophen zwingen zur wettbewerbsfreien Kostenübernahme und Subvention. Das Geld verliert seinen Schein. Bitcoins, Währungsspekulation und Wucher entzaubern es.
- Der andere Kapitalismus muss nicht aus den Interpretationen der Philosophen, sondern aus den tatsächlichen Veränderungen im bestehenden Wirtschaftssystem entwickelt werden. Dabei hilft eine Rückkehr zu den Zeiträumen der Geschichte, in denen sich die Geldwirtschaft durchgesetzt hat. Das Anreizsystem der Akkumulation von Geldgewinnen war zwar mit Blick auf die Produktivität der Wirtschaft das erfolgreichste nicht aber für alle menschlichen Funktionen auch das Beste.
- Will man das Bewusstsein für Veränderungen schärfen, um Alternativen zu entwickeln, so muss als erstes die Vorstellung beseitigt werden, dass unser bestehendes Wirtschafts- oder sogar das ganze Gesellschaftssystem mit dem Begriff des Kapitalismus erschöpfend beschrieben werden kann und daher nur eine Gesamtalternative Neues bringt. Das rein kapitalistische Element ist die Reduktion des Kooperationsgewinns auf Geld und dessen Verkehrung von einem Mittel zum Zweck. Reichtum muss wieder aus der Umarmung durch das Geld befreit das werden, was der Menschheit am meisten nützt. Das geschieht durch die Veränderung des Geldsystems selber, wie sie sich in den vielen Ausnahmen andeutet.