Inflation und soziale Gerechtigkeit

Inflation verteilt Reichtum um. Nach jahrelanger Wertbeständigkeit gibt es nun Geldentwertung. Die Inflationsrate des Euro liegt 2022 im Durchschnitt bei 8%. Für Lebensmittel (Milch 13,1%; Fleisch 16,5%; Brot 10,8%, Strom, Heizung (38,3%)) und damit vor allem relativ für die niedrigen Einkommen, bei denen diese Ausgaben einen größeren Anteil haben, liegt sie, wenn man endlich auch in Deutschland schichtenspezifische Inflationsraten ausweisen würde, weit über 10%. Acht Prozent  bedeuten, dass der Verkäufer von 100l Milch den Preis um 8% erhöht. Statt bisher 33,7 € erhält er nun 36,40 € also 2,70 € mehr als vorher. Kauft er damit Futtermittel ein, bezahlt Landarbeiter und Pacht, Tierarzt und E-Werk und haben diese ebenfalls ihre Preise um 8% erhöht, weil sie auf der Kostenseite unter Inflationsdruck standen, dann ist der Inflationsgewinn wie gewonnen so zerronnen. Das gilt auch im internationalen Vergleich, wenn nicht unterschiedliche Inflationsraten den Wechselkurs bestimmen und damit die Waren eines Landes zugunsten eines anderen entwerten. Inflation ändert somit an sich nichts an arm und reich, wenn sie alle Sektoren und Währungen gleichmäßig erfasst und sich stetig entwickeln würde. Preis und innerer Wert, Nominal- und Realwert, Tauschwert und Gebrauchswert offenbaren nur, dass sie nicht identisch sind. Die Nachfrage bezahlt die höheren Preise und entwertet damit ihr Geldvermögen.

Zwei Prozent Inflation sind gesund?

Die EZB sieht ihr Ziel der Preisstabilität bei 2% Inflation. Unternehmen und Banken erhalten so einen Anreiz, ihre Gewinne in Güter und Dienstleistungen der realen Wirtschaft zu investieren statt sie in den Geldmärkten anzusparen, wo selbst Negativzinsen der Zentralbank wenig anrichten können, weil es andere Anlagemöglichkeiten gibt. Von 0% auf 8% Inflation innerhalb gut eines Jahres ist dagegen bedrohlich. Die Kalkulation von Firmen und Verbrauchern geht nicht mehr auf, wenn das Angesparte schon im nächsten Jahr nicht mehr reicht, um das Anvisierte zu kaufen. Sie könnten überregieren und eine Rezession aus Vorsicht provozieren. Ansparen in dieser Währung ist gefährlich, weil man sein Geld verliert. Kredite werden zum Eldorado für Schuldner, wenn die Valuta, mit der man ein Auto zum alten Preis kaufen konnte, nun in entwerteten Währungseinheiten zurückbezahlt werden kann. In einer galoppierenden (30% p.a.) oder in einer Hyperinflation (50% p.m.) wird die Währung als Mittel für Tausch, Sparen und Wertmesser unbrauchbar und damit funktionslos. Die Wirtschaftssubjekte benutzen ausländische Währungen oder nutzen Gegenstände mit eigenem Wert (Gold, Zigaretten) als Tauschmittel.

Geldvermögen vs. Realvermögen

Wäre Inflation nur eine Währungsanpassung, so könnte man sie administrativ so bewältigen wie am 1.1.1960 in Frankreich, wo ein neuer französischer Francs (NF) 100 alte ersetzte. Doch das besondere an der Inflation ist ihre Ungleichheit nach Zeit, Sektor, Vermögensform und Geldfunktion. Ungleiche Inflationswirkungen und -raten verteilen das Vermögen in der Gesellschaft um.

  • Zeitlich wird wer jetzt investiert demjenigen der spart vorgezogen.
  • Lebensmittel, Mieten, Wohneigentum und Energie sind relativ teurer als Luxus- und Industriegüter. (Das Wohneigentum als einer der größten Preistreiber wird von der Bundesbank bisher nicht in die Berechnung einbezogen.)
  • Betroffen ist nur das Geldvermögen einschließlich der ausstehenden Geldzahlungen und Wertpapiere.
  • Entwertet werden Löhne, Gehälter und Rentenzahlungen. Sie müssen nominal vereinbart werden. (Euro = Euro) Preisgleitklauseln sind als Inflationstreiber prinzipiell unzulässig. Für (variable) Zinsen und Mieten gilt dies Verbot leider nicht.

Für alle diese Ungleichheiten haben die Betroffenengruppen Gegenmittel entwickelt. Kreditgeber, Vermieter und Gewerkschaften haben mit variablen Zinsvereinbarungen, erzwungenen Umschuldungen, Indexmieten und Preisanpassungsklauseln aber auch über Tarifverträge und Streik Aufwertungsmöglichkeiten. Während die Rentenanpassung teilweise sogar überkompensiert zeigen die Armutssubventionen eine unsoziale Starre, indem für sie mit einem eigenen Warenkorb ihre Inflationsrate manipuliert wird.

Selbstheilungskräfte der Marktwirtschaft

Geld ist wertlos. Es schafft nur Zugang zu Werten. Man kann sich damit etwas kaufen, solange die Verkäufer darauf vertrauen, dass dies für dieses Geld so bleibt und auch für sie gelten wird. Der Wert des Geldes ist seine Kaufkraft. Steigen Einkommen und Preise gleichmäßig, so bleibt die Kaufkraft unverändert. Steigen die (arbeitsfreien) Einkommen aus Geldbesitz (Renditen, Zinsen und Profite) stärker, ohne dass dem ein entsprechend erhöhtes Angebot gegenübersteht, dann sinkt die Gesamtkaufkraft des vorhandenen Geldes. Dies führt klassisch zu einem Nachfrageüberhang, der Preissteigerungen erlaubt, die wiederum durch Inflation das vorhandene Geld an seine reale Kaufkraft anpassen. Staatlich Fixierung der Preise verhindert dies, produziert aber Mangelwirtschaft und Korruption. Die Marktwirtschaft hilft sich.

Mit Entstehung der Geldmärkte, in denen der Wert des Geldes sich als Kaufkraft für Geld in einer anderen vor allem aber durch Risiken anders vergüteten Form (Aktien, Futures, Fondsanteile …) niederschlägt, hat sich der Geldwert teilweise von der Realwirtschaft entkoppelt. Die großen Geldnachfrager und Investoren sind nicht mehr Verbraucher, Staat und produktive Unternehmungen, sondern inhaltsleere Geldsammelstellen, die nur ihr Geld vermehren wollen. Pensionskassen und Investmentfonds investieren für die höchste Rendite, gleichgültig ob es eine reine Geldrendite oder Ausdruck der Produktivität investierter Arbeit ist.  Das geht so lange, bis das Vertrauen in die Renditen schwindet und der Investor wie beim Pokern „zum Sehen“ ruft. Er investiert dann in die Realwirtschaft. Renditeträume lösen sich auf. Der inflationswettlauf beginnt. Die Geldvermögen reduziert sich auf den Nachfragewert ihres Vermögens. Der Kapitalismus bestraft die Gier seiner treuesten Profiteure. Das kann zu einer Finanzpanik wie 2008 führen. Bill Gates verlor Hälfte seines Vermögens. Hätten nicht die Staat en der G7 die Geldbesitzer mit ihrem Vertrauensvorschuss und Steuergeldern gerettet, die Leitwährungen wären zusammengebrochen. Billionen privater Kredite wurden von den Staaten verbürgt und von den Zentralbanken übernommen. Sie retteten das Investitionsprinzip der Gier, stellten die Bürger mit zusätzlicher Nachfrage ruhig und verschoben die Sanierung auf Morgen.

Inflation zeigt den Verlust nur auf

Dieser Morgen ist nun angebrochen. Das kommt zur Unzeit. Der Kaufkraftverlust des Geldes findet keine Kompensationsmöglichkeiten mehr. Die Ausbeutung der Entwicklungsländer stößt an ihre Grenzen. Stellvertreterkriege finanzieren sich nicht mehr selber. Man braucht Waffen und Nachschub. Energiesicherheit ist teuer geworden. Die Gemeinkosten der menschlichen Welt werden nach dem Verursacherprinzip verteilt. Aufrüstung und Entgiftung sowie Besänftigung und Wirtschaftsflüchtlinge kosten Billionen, die nicht in Konsum- und Investitionsgüter fließen. Die Schäden aus Pandemien und Naturkatastrophen müssen finanziert werden.

Die Bevölkerung ist mit ihrem Geldbesitz fett und träge geworden. Sie hat sich daran gewöhnt, dass Geld reich macht und unbegrenzte Möglichkeiten schafft. Das ergreift auch die Mittelschicht. Die Angst vor Altersarmut in einer Wirtschaft, die die Jungen ausbeutet, verhindert den inneren Ausgleich. Der Aufschrei bei negativen Zinsen, die den nutzlosen Geldüberhang nur spiegeln und zur Investition zwingen wollen, zeigt, dass sich alle an den Geldwertglauben gewöhnt hat. Dabei führt nicht die Geldentwertung zum Verlust. Es ist der Verlust, der sich in der Inflation zeigt.

Acht Prozent sind nötig

Das private Geldvermögen belief sich laut Bundesbank 2021 auf 6,8 Bio. €. Es ist in den letzten Jahren jährlich um eine halbe Billionen Euro, also um 7,4 Prozent  gestiegen. Die Inflation könnte dies kompensieren.  Betroffen von dieser Inflationsabgabe wären  alle Geldgläubiger. Nutznießer wären die Schuldner. Geht man grob davon aus, dass die Geldbesitzer vor allem Gläubiger sind (Sparbürger) denen die Kreditbürger Geld schulden, dann hilft die Inflation grundsätzlich den Armen gegen die Reichen.

Dieser Umverteilungseffekt war 1923 Gegenstand der Auseinandersetzung zwischen Reichsregierung und Reichsgericht. Nach Kriegswirtschaft und Reparationszahlungen in Devisen, die man nicht hatte, kostete ein US-Dollar 4,2 Bio. (Papier)Mark.  Die Reichsregierung verweigerte aus sozialen Gründen eine gesetzliche Anpassung der Schulden. Das Reichsgericht meinte aus „Treu und Glauben“ den Gesetzgeber ersetzen zu müssen, um die Geldvermögen zu schützen. Er habe versagt. Gesiegt hat letztlich das Reichsgericht, das damit die Nazi-Diktatur weiter vorbereitete.

Doch das Geldvermögen ist nicht gleich verteilt.  10% der Bevölkerung besitzen davon 61%, 30% nichts davon.  Die oberen 50% vereinen auf sich 97% des Geldvermögens. Daher müsste die Inflation vor allem die Reichen treffen und mit der sozialen Umverteilung zu mehr sozialer Gerechtigkeit beitragen.

Inflation und Armut

Die Inflation könnte also ein sozialpolitisches Mittel zum Abbau bzw. zur Begrenzung der Schere zwischen Arm und Reich sein. Vorausgesetzt ist allerdings, dass die Reichen nicht ihre politische Macht benutzen und wie schon nach den beiden deutschen Währungsreformen ihre Geldschulden aufwerten lassen und davon profitieren, dass auch die Lohneinkommen entwertet werden. Das muss aber nicht so sein.

Gewerkschaften vertrauen nicht dem Selbstheilungspotenzial des Kapitalismus. Sie wollen „die profitgetriebene Inflation verhindern!“ und die am meisten betroffenen „Gering- und Normalverdienende“ schützen. Sie verweisen auf Entwicklungsländer, bei denen die größten sozialen Gegensätze zusammen mit den höchsten Inflationsraten aufweisen.

In der Tat sind die sozialen Interessen im Kapitalismus nicht wie Engels und Kautsky es meinten identisch mit der Schuldner- und Pflichtenseite. ArbeitnehmerInnen sind nur im Konsum Schuldner. Deutlich sichtbar wird das, wo sie Konsumentenkredite aufnehmen und abzahlen. Beim Arbeitseinkommen und seinen Derivaten wie der Altersvorsorge oder dem Vermögenssparen sind die VerbraucherInnen dagegen Gläubiger, denen Arbeitgeber, Banken, Versicherungen und Fonds mit der Inflation einen Teil ihrer Forderungen wegnehmen. Die Inflation entwertet ihre Ansprüche.

Ist die Inflation deswegen ungerecht?

Die gespaltene Inflation

Die Inflation ist im kapitalistischen Wettbewerb so unvermeidlich wie Ebbe und Flut. Wenn man die Flut daran hindert, das Meerwasser wieder zurückfließen zu lassen, dann ist die nächste Flut damit eine Hochflut. Wem sie schadet und wem sie nützt ergibt sich aus den Bewässerungsbedingungen und nicht aus dem Wesen der Inflation.

Aktuell steigt der Pegel. Die EZB hält durch Umwandlung von Bankanleihen in Staatsanleihen die Geldflut zurück. Die Kreditvergabe soll lukrativer werden. Die Schuldner dieser Welt, die diese Zinsen erwirtschaften sollen, werden sich wieder genötigt sehen, von Inflationswirkungen befreiten Renditen für das benötigte Kapital aufzubringen, indem sie es aus ihrem Konsumfonds nehmen. Auch der Staat wird seine explodierenden Schulden damit bezahlen, und Zukunftsinvestitionen unterlassen. Das gilt erst recht finanzschwache Länder, zu denen nicht mehr nur die Entwicklungsländer gehören.

Vom Kopf auf die Füße

Doch mit der Digitalisierung sind die Geldströme und -werte erkennbar und beeinflussbar. Wo die Geldentwertung das Kapital abzieht und wohin sie es befördert, darüber kann auch der Gesetzgeber entscheiden. Die Milliardentransfers können auch einmal die Reichsten treffen. „Geldwert den Hütten, Inflation den Palästen“ könnte man das Motto benennen.

Die Inflation könnte genutzt werden, um die Minimaleinkommen auf Kosten des angehäuften Geldvermögens bei wenigen aufzuwerten. Dazu muss im Gesetz geklärt werden, welche Einkommen den Konsum sicherstellen, der für die Erhaltung der Würde des Menschen unabdingbar ist und von dem sicher auszugehen ist, dass es auch konjunkturfördernd verausgabt wird. Dazu muss Wohnen (Wohngeld), Leben (Sozialhilfe), Transport (ÖPNV) und Bildung (BAFÖG) von den Auswirkungen der Inflation freigestellt werden. Die Inflationsrate muss als Eckpfeiler für die Anpassung sozial relevanter Lebenshaltungseinkommen wie insbesondere der Löhne nach dem Mindestlohngesetz überall dort eingefügt werden, wo es um Anpassung geht. Es darf hier nicht das passieren, was das Bürgertum fälschlich als kalte Progression bei Steuertarifen behauptet. Die unteren Einkommensschichten brauchen eine Realwertgarantie.

Umgekehrt müssen ihre Schulden und die Schulden des Staates vor „Anpassung“  an das Inflationsniveau geschützt werden. Schlupflöcher für Preisgleitklauseln, die mit Recht von den Währungshütern mit Argwohn beobachtet werden, darf es nicht mehr geben. Indexmiete oder Marktvergleichsmiete dürfen keine Mieterhöhungen rechtfertigen. Man findet die Aufwertung auch im Verbraucherkredit, wo bei ansteigendem Zinsniveau, die Schuldzinssätze auch für die Zeiträume angepasst werden, in denen keine Inflation herrschte.

Dem spekulativen Wertpapierbereich, der die Inflation auslöst, darf dagegen dieses Risiko nicht abgenommen werden.

 

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