Soziale Gerechtigkeit 1: große Ziele und kleine SPD (SZ 22.01.2018)

Für Nico Fried geht es bei der SPD in Berlin darum, sich möglichst teuer zu verkaufen. Was sie einkauft ist sekundär. Ist sie damit ein Schnäppchenjäger, der egal was erstanden wurde, dem Parteivolk den Marktwert präsentieren muss? Ich denke darum geht es nicht. Die SPD steht vor der historischen Frage, ob sie noch Ziele hat, die sie von anderen unterscheidet und ob dies nach weiteren vier Jahren Regierung noch jemand hinter allen Reförmchen vermutet.

Große Ziele und kleine Geschichten

Das sieht sie selber so. Sie möchte sich runderneuern. Einige wollen das in der Opposition, andere in der Regierungsverantwortung. Skepsis ist erlaubt. Die Schröder/Schmidt SPD der Modernisierer hat nach dem Urteil der Wähler in Regierungs- wie Oppositionszeiten die Lafontaine/Brandt SPD der Sozialisten eher verdrängt als ersetzt und damit Empathie eingebüßt.

Die Jusos wollen die SPD daher niedlicher und deshalb in der Opposition haben, um dann „große Ziele“ entwickeln zu können. Nahles fragt zurück: „Lieber Kevin, kannst Du mir näher erklären, was große Ziele sind?“ Sie antwortet aber doch lieber selber: „Heute Morgen hat mich auf der Straße eine Frau angesprochen und gefragt, wann die Grundrente endlich komme. Sie habe 35 Jahre lang hart gearbeitet. Ich habe ihr gesagt – (sie wendet sich zur Seite) das stimmt doch Felix, Du warst doch dabei? -, dass wir hart daran arbeiten.“

Andrea, Felix und Kevin sind die Genossen, die das mit der sozialen Gerechtigkeit schaffen sollen. Das müssen sie nicht mehr anderen erklären, gleichgültig ob beim Regieren oder in der Opposition. Sie haben ja auch schon die Mittel, wie man soziale Gerechtigkeit herstellt. Deshalb kann man so kleine Geschichten erzählen über große Ziele, die eigentlich nur Mittel sind.

Doch Kevin, was ist, wenn die SPD weder große noch kleine Ziele hat, sondern nur Mittel? Was ist, wenn sie einfach nur diejenigen für sozial benachteiligt erklärt, denen sie helfen will? Was ist, wenn auch diese Grundrente wieder ungerecht ist, weil erstens Arbeitslose, Alleinerziehende, Alternative und Anfänger keine anspruchsberechtigten Arbeiter sind und zweitens wir gut belegt große Kinderarmut aber kaum Altersarmut haben, zurzeit aber diese wahlunmündigen Kinder belasten, um den jetzt wahlberechtigten Alten das Gefühl zu nehmen, es könnte einmal Armut drohen?

Noch eine Kleinigkeit. Mit ein bisschen Muße zur Diskussion hätte Euch auch bei Eurer Grundrente, die eigentlich eine Mindestrente ist, auffallen können, dass es sie schon lange gibt. Karl Marx und viele nach ihm bezeichneten damit den arbeitsfreien Zinsertrag der Immobilienbesitzer. Leistungsgerecht fanden sie das nicht. Aber man kann ja begrifflich innovativ sein. Für die Definition der Gerechtigkeit stimmt dies aber nicht hoffnungsfroh.

#Soziale_Gerechtigkeit – ernst gemeint?

Ihr seid für soziale Gerechtigkeit. Warum kommt sie im Einigungspapier praktisch nicht vor? Die Nennung bei der Kulturpolitik und für ein gerechteres Europa beruhigt mich nicht. Bei letzterem denkt man ja unweigerlich an das Elend in Griechenland, aber von dem ist keine Rede. Das Land kommt nur vor, wo ihr die Abnahmegarantie für Migranten streichen wollt.

Immerhin streitet ihr für eine gerechtere Handelspolitik. Fair Trade oder Ceta? Eure Ausführungen zur Gerechtigkeit reichen nur für eine Grundrente, nicht aber für ein Grundsatzprogramm und einen Grund Euch zu wählen.

Gerechtigkeit pur

Mir gefällt, dass Ihr in den wenigen Nennungen meist das Attribut sozial weglasst. Ich hoffe, das macht Ihr nicht, weil Ihr im Hinterkopf auch eine asoziale Gerechtigkeit für möglich haltet, wie sie der Agenda 2010 und manchem Digitalfetischismus unterstellt wird. Für Aristoteles war Gerechtigkeit immer sozial. (III,41) Er musste sie nicht eingrenzen. Man erfand die Eingrenzung, als man den Marktreligionen des 19. Jahrhunderts erlaubte, eine zweite formale Gerechtigkeit festzulegen. Danach war auch gerecht, wenn ungerechte Verteilungen sich proportional auch in den daraus gezogenen Nutzungen fortsetzten. Freier Wille, Vermögen und Gegenseitigkeit waren ihre Prinzipien. Hegel fasste dies vor 1800 wie folgt zusammen: die Reichen werden immer reicher und die Armen immer ärmer. (II, FN 101) Ganz Unrecht behielt er nicht.

Doch nehmen wir an, ihr geht zu Aristoteles zurück und streitet ohne Einschränkung für Gerechtigkeit für alle. Dann könnt ihr das übrig bleibende Wort sozial gut bei der in Zukunft fälligen Kontrolle der Wirkungen Eurer Mittel nutzen. Vielleicht kommt dann mehr als Sozialhilfe, Umverteilung, Steuerersparnis und Subvention heraus. Als Gesetzgeber könntet ihr ja auch einen Teil der Verantwortung für den Wucher der Zivilgesellschaft aufbürden und damit statt Armut und Arme die Verarmung bekämpfen.

Gerechtigkeit ohne soziale Einschränkung würde zudem den Völkischen (vgl. den Parteinamen der polnischen PiS, oder der türkischen AdaletparteiI), AfD und Donald Trump (gerecht ist was „uns“ nützt) den Boden streitig machen. Mit ihrer Berufung auf Gerechtigkeit zerstören sie deren eigentliche Grundlagen.

Gerechtigkeit ist gleiche Freiheit für alle, für Alleinerziehende und Kinder, für Kinderreiche und Behinderte, Flüchtlinge und Migranten, …  Doch die Mittel sind nur gerecht, wenn sie auch tatsächlich dazu führen, dass die Chancen effektiv genutzt werden. Sonntagsreden und Schuldzuweisungen an die Opfer helfen nicht. Man muss überprüfen, Modellhaushalte durchspielen und statt der Finanzstatistiken der Reichtums- und Armutsberichts einen Verarmungsbericht schreiben, der sich nicht auf die Schulter klopft.

Neue Ehrlichkeit

Das erfordert eine neue Ehrlichkeit. Alle Wirtschaftssysteme sind notwendig ungerecht. Sie versprechen niemals gleiche Freiheit. Jeder erhält nur Gleiches nach seiner Raubfähigkeit (Urgesellschaft), seinem Status (Feudalismus) und Besitz (Kapitalismus), nach seiner Leistung (Sozialismus) und seinen Bedürfnissen (Himmel, Schlaraffenland, Kommunismus). Diese Ungleichheit erhöht die Effizienz des Ganzen. Ungerechtigkeit ist daher notwendig. Doch Gerechtigkeit bleibt das Ideal. Doch wie viel davon, gegenüber wem man sie preisgibt und wie man die Opfer entschädigt und die Ergebnisse verteilt, dafür braucht man allgemeine Konzepte, die in der Demokratie vom Recht festgelegt und verändert werden. Das wäre eine Politik der Gerechtigkeit, die sich nicht hinter Sachnotwendigkeiten versteckt.

Die anderen Gerechtigkeiten

Für eine solche Gerechtigkeit ist noch viel Platz in der Parteienlandschaft. Liest man den Überblick zu den Gerechtigkeitsvorstellungen der Parteien im Spiegel quer, so kann man zusammenfassen: CDU und Kirchen brauchen die Armut, damit die Reichen wohltätig sein können, die FDP braucht sie als Leistungsanreiz und Reichtumslegitimation für die anderen, die Grünen sehen sich durch Armut in ihrem sozialen Frieden bedroht, die AFD findet den Staat wegen der Steuern ungerecht und weil sie ihn noch nicht beherrscht, die CSU ist schon selbst gerecht und nimmt daher keine Stellung. Für die Linke gibt es erst im Schlaraffenland Gerechtigkeit.

Die SPD setzt da besser an. Sie verlangt gleiche Freiheit für alle. Doch dann kommt der Absturz, es geht nur um die Kitagebühren. Das Mittel ersetzt den Zweck. Der große Wurf ist das nicht.

Gerechtigkeit für “hart Arbeitende”

Im Übrigen besteht eine merkwürdige Einigkeit. Alle finden es gerecht, wenn „harte“ Arbeit belohnt wird. Doch nicht alle Arbeit zählt. Die Reha des Verletzten, die Kindererziehung zu Hause, die Nachbarschaftshilfe, die Persönlichkeitsbildung, die Arbeit für den demokratischen Widerstand – sie hat man vergessen. Das ist grundsätzlich. Man meint ja nicht Arbeit, sondern belohnte Arbeit – also die Lohnarbeit. Die Belohnung ist nur zu gering. Die Steuer und Versicherung frisst alles weg. Die FDP sagt es freier. Nicht die Arbeit, sondern die Leistung muss gerecht bezahlt werden. Die Leistung aber bestimmt der Geldwert. Den bestimmt wiederum der Markt, der auf die Nachfrage der Geldbesitzer reagiert. Jedem nach seiner Leistung und was Leistung ist bestimmen die Geldbesitzer. Reicht das?

Opponieren oder Regieren?

Die SPD muss für diesen Diskussionsprozess nicht in die Opposition. Wer würde auch die 45 Mrd. € Steuerüberschuss verteilen? Müssten wir ertragen, dass die FDP amtlich feststellt, dass die Investmentbanker noch am härtesten „gearbeitet“ hätten? Ohne SPD ist die FDP bestimmt dabei. Die AFD wartet schon. In Österreich finden sich Völkische und Nationalliberale gut zusammen. Das galt auch schon für die Weimarer Republik.

Die SPD braucht, egal wo sie ist, in den nächsten vier Jahren große Ziele, sonst steigt sie in den Keller, wo die Bruderparteien aus Italien, Spanien, Österreich und Frankreich schon warten. Kurt Tucholski’s Aufforderung von 1932 an die SPD sich doch in „Hier kann man Kaffee kochen“ umzubenennen, wäre wieder aktuell.

Wenn alle Modernisierer, Effizienzler, Macher, Machthungrigen, Digitalanbeter der SPD in die Regierung übersiedelten, wäre das auch eine Chance für die anderen. Sie könnten dies für eine Auszeit nutzen. Gerechtigkeit könnte in der Diskussion Profil gewinnen. Auf einige homöopathische Mittel wie Mietbremse, Equal Pay, Riesterrente, Leiharbeitsbeschränkungen, Widerrufs- und Informationsrechte müsste man kurzfristig verzichten. Sie könnten aber zu einem System verbunden werden, dessen Nebenwirkungen vorher erforscht würden, bevor sie dann wirklich wirken.

 

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