Taliban: vielleicht ist alles anders als man denkt

Sieg über den Krieg?

Die Schrecken der Taliban sind größer als die Schrecken des Krieges. Chaotische Zustände am Flughafen Kabul. Überall Angst. 20 Jahre lang konnte man über die Herrschaftsmethoden der Koranschüler aus Pakistan, die sich aus den vom Westen gegen den Kommunismus bewaffneten Mujaheddin rekrutierten, offensichtlich nicht mehr zu erfahren. Es sind ja dieselben. Frauen erhalten Bildungsverbot, Berufsverbot, werden zwangsverheiratet, gesteinigt, öffentlich hingerichtet. Geld verdienen die Taliban mit Drogen, auch wenn sie unter ihrer Herrschaft vergeblich ein Verbot durchsetzen wollten.

Die Taliban streiten alles ab. Doch wir sollen ihnen nicht trauen. Sie wollen eine Besatzungsmacht vertrieben haben, die die Warlords der ethnischen Minderheiten von Tadschiken (Massud) und Usbeken (Dostum) gegen das Volk instrumentalisierte. Sie hätten die unlösbaren Ethnokonflikte kleptokratischer Stammesfürsten wie  Hekmatyar, die Tarik und Nadschibullah einst mitsamt dem Kommunismus überwinden wollten, mit dem Islam, dem 99% der 38 Mio Afghanen anhängen, gelöst. Mit der politischen Anwendung eines wörtlich verstandenen Koran sollte, so meinen sie, eine nationale Identität geschaffen werden, an dessen Fehlen sich der Nachbar Indien zugrunderichtet. Ohne die G7 und ihre afghanischen Söldner, die im siebtärmsten Land der Welt ihr Geld nicht anders als beim Militär oder durch Drogenexport in den Westen zu verdienen wussten, wäre so meinen sie das Warlord-System längst zusammengebrochen.  Sie würden jetzt eine inklusive Regierung bilden, Frauenrechte achten, Al-Kaida und ISIS des Landes verweisen und sich mit den Anrainerstaaten Pakistan, China, Russland, Türkei und Iran arrangieren, die sich zur Zusammenarbeit bereit erklärt hätten.

Was ist, wenn sie doch nicht lügen? Sind wir nach 150 Jahren Expeditionskorps am Hindukusch ausreichend informiert, um kompetent Stellung zu nehmen?

„Wir haben berichtet, obwohl wir nichts wussten“ (Anonymus)

CNN, BBC, NBC, NTV, das Recherchekartell aus ARD, ZDF und Süddeutscher Zeitung, aber auch der Tagesspiegel und Euronews – anders nur Al Jazeera und China Daily stimmen mit Joe Biden sowie Angela Merkel darin überein: „Das Chaos war unvermeidbar.“ „Wir sind überrascht worden. Wir haben davon nichts gesehen und gehört. Die Geheimdienste (und wohl auch die 50.000 Kollaborateure und die anfänglich entsandten 130.000 eigenen ISAF Soldaten sowie die 300.000 geschulten und von der Allianz bewaffneten Soldaten der afghanischen Armee) auch nicht.“ Vier Wochen vor dem Sturz von Kabul hatte Biden mit dem Wissen aus 20 Jahren amerikanischer Besatzung und weiteren 10 Jahren Präsenz noch geweissagt: „Eine Machtübernahme durch die Taliban ist hochgradig unwahrscheinlich.“ Von 2009 bis 2017 und ab 2021 verantwortete Biden als (Vize)-Präsident die Afghanistanpolitik seines Landes. Schon ab 1973 unterstützte er sie im US-Senat. Im Oktober 2001 ersetzte die NATO unter Führung der USA (ISAF) in einem Blitzkrieg die Taliban-Regierung durch ihnen genehme Stammesführer. Die kannte man schon aus dem Guerilla-Krieg gegen die Sikorski-Hubschrauber der sowjetischen Besatzer. Die wurden bis zum Abzug 1989 mit amerikanischen Stinger-Raketen vom Himmel geholt.  Die russlandfreundliche Regierung konnte sich damals noch drei Jahre halten, bis Najibullah erschossen wurde.

Doch wenn die G7 nichts wussten, was wurde uns denn berichtet? Die Medien waren voll von Afghanistan-News. Jeder Taliban-Anschlag wurde gefilmt, kommentiert, gezeigt. Eine Mörderbande personifizierte den internationalen Terror. Sie waren auch dann „islamistisch“, wenn sie den Berg hochkletterten. Dass die Bewegung auch Freunde in einem Volk haben musste, das drei Befreiungskriege gegen die Briten (1839, 1880, 1919) erfolgreich abschloss, 1989 die Russen verjagte, um sich dann 2001-2021 gegen die dritte Großmacht, die US-Amerikaner (und Briten) durzusetzen, wurde vom Reality-Journalismus begraben. Am Schluss waren es die Frauen und Mädchen, deren Schulbesuch die 100.00de von Toten rechtfertigen sollte.

War es nicht auch der militärische Auftakt des Krieges gegen den Terror, der mit der Feindfindung den Selbstfindungsprozess eines US-„Volkes“ in der ganzen Welt beweisen musste? Die umgekehrte Domino-Theorie des George W. Bush, dass wenn ein islamisches Land fällt, der Rest hinterherfällt, rechtfertigte immerhin militärische Eingriffe, die auch der Ölversorgung dienlich waren.

Wer für die Freiheit der Presse eintritt ist nicht davon befreit, die Freiheit ihrer Informationen nachzuprüfen. Embedded Journalism gibt es auch im Bomben- und Drohnenkrieg.

Es könnte ja alles ganz anders gewesen sein.

Die Mujaheddin, die zum beträchtlichen Teil zu den Taliban übergelaufen sind, könnten sich ja auch heute noch, wie Ronald Reagan es einst nannte, als freedom fighter fühlen. Den USA ist, wie es Biden andeutet, die Frauenfrage 2001 ziemlich gleichgültig gewesen. Dafür habe man keine Gis geopfert. In Saudi-Arabien sahen sie den Steinigungen unbeteiligt zu, im Irak und Libyen wurden Frauen mit Bomben belegt, vor der amerikanischen Haustür in Haiti verhungerten sie und die von Korea nach Japan verschleppten Zwangsprostituierten des zweiten Weltkrieges erhalten bis heute keine Entschädigung. Vielleicht war dann auch die Pressefreiheit nicht so gemeint, wenn sich unter den auszufliegenden „Ortskräften“ neben den Offizieren und Kriminellen, die Passiergebühren eintrieben, Journalisten meldeten, die angaben, für das amerikanische oder deutsche Militär gearbeitet zu haben, während eine Mädchenschule im Norden bittet, die Entwicklungshilfe nicht einzustellen, weil sie auch unter der Taliban weitermachen.

Vielleicht haben die Taliban sich ja verändert. Die Russen müssten sich hier auskennen. Sie wollen immerhin abwarten, ihre Zusammenarbeit aber nicht ausschließen. China, dem man stereotyp Islamfeindlichkeit bei den angrenzenden Uiguren unterstellt, hat seine Botschaft nicht geschlossen. Es wird als einziges Land von den Taliban ausdrücklich um Mithilfe beim Wiederaufbau gebeten. Vielleicht glauben auch die Amerikaner, die Strahlkraft ihrer mit Vorwürfen zu Rassismus und unberechtigten Kriegen belasteten Demokratie zu erhöhen, wenn man dem Rest der Welt Terrorismus, Fake-News und Feindseligkeit gegenüber dem amerikanischen Traum vorwerfen kann.

Nobelpreis für Donald Trump?

Man wird in den nächsten Monaten sehen, ob Donald Trump sich nicht doch wie einst Henry Kissinger den beanspruchten Friedensnobelpreis erhält, als er (wie in allen Bereichen seiner Politik) beschloss nichts mehr zu tun: keine Flüchtlinge mehr ins Land zu lassen, keine Soldaten mehr nach Afghanistan oder in andere Länder der Welt zu schicken, keine Steuern mehr zu erheben, keine Brücken mehr zu reparieren, keine Waren mehr ins Land zu lassen, keine Bündnisse und Verträge mehr zu respektieren, keine Krankenkosten und überhaupt keine Verantwortung mehr zu tragen.  Der Vorteil seiner Politik in Afghanistan und im Irak liegt darin, dass die „America First“ Strategie, der auch Biden folgt, nicht mehr als Hilfe für die Menschenrechte verkleidet fremde Länder erobert, sondern eher Kräfte bindet, die zu Hause gebraucht anderswo Schaden stiften könnten.

Quo Vadis?

Doch die Marschrichtung der Öffentlichkeit scheint schon geklärt. Kollaborateure werden zu „Ortskräften“ oder „Schutzpersonen“. Ziel des Krieges war 20 Jahre später nicht mehr der Terror der Saudis unter Osama Bin Laden in New York, für den den Kopf hinzuhalten nur der Stolz der Taliban sorgte. Jetzt war das Ziel das „Nation building“, eine Art demokratische Gehirnwäsche mit Menschenrechtsbekundungen. Die militärische „Befriedung“ durch den Westen ist vorbei. Nicht besser sieht es mit dem ökonomischen Aufstieg des siebtärmsten Landes aus. Auch der Opiumexport stieg beständig bis hin zur Hälfte des Bruttoinlandsproduktes. Doch die Alliierten haben mit 1 Billionen Dollar Investition Spuren hinterlassen. Der letzte Präsident Ghani, der 24 Jahre in den USA weilte, ist nach Auskunft seines Botschafters in Taschkent symbolträchtig mit Geldkoffern im Gepäck in die Ölemirate geflohen.

Jetzt sollen einige 100 Mio. Dollar Entwicklungsgelder sowie die in den USA und beim IMF gelagerten Währungsreserven eingefroren werden. Der wirtschaftliche Niedergang wird dann wohl nicht nur dem Regime der Taliban angelastet, sondern riskiert auch deren Rückkehr zum Schwert statt der Pflugschar.

Gelernt?

Vielleicht wird etwas aus den Niederlagen gelernt. Die offenen oder verdeckten amerikanischen Expeditionen nach Asien (Korea, Vietnam, Kambodscha, Philippinen), Arabien (Libyen, Ägypten, Irak, Syrien), Süd- (Brasilien, Venezuela) und Mittelamerika (Panama, Guatemala, Cuba) sowie in den mittleren Osten (Afghanistan, Iran) sind gescheitert. Die USA hatten die alten Kolonialmächte nicht nur im Schlepp, sondern ihre WASPs auch die britische Seele im Gepäck. Die beweglichen Ziele (Massenvernichtungswaffen, Diktatur, Kommunisten, Terrorismus) überzeugten nur die, die ohnehin an sie glauben wollten. Die vereinigten Regierungen von Westeuropa machten mit. In Zukunft aber fehlt England, die driving force. Auch Osteuropa entdeckt sich selbst. Lernen ist leichter geworden. Das Chaos in den „befriedeten“ Ländern lädt nicht mehr ein, dorthin zu gehen, sondern eher wegzubleiben.

Die wilde G13

Im Kinderbuch hat die wilde 13 das Böse bekriegt. Könnte da nicht die G13, das ist die G20 minus die G7, eine neue Entwicklungspolitik definieren. In der G7, die Dienstag beraten will, sind alle kapitalistischen ehemaligen Kolonialmächte (Deutschland; Frankreich, Italien, Japan, Kanada, UK, USA + EU) die in Afghanistan auftreten, vereint. Sie repräsentieren 10% der Weltbevölkerung und knapp die Hälfte des globalen nominellen Bruttosozialproduktes. Bei den G13 (Argentinien, Australien, Brasilien, Indien, Indonesien, Mexiko, Russland, Saudi-Arabien, Südafrika, Südkorea, Türkei, China) ist es umgekehrt. Sie vertreten die Hälfte der Weltbevölkerung und ein Drittel des globalen BIP. Die G7 haben sich gegen Corona, den Klimawandel, die Wasserknappheit und Dürre gewappnet. Den G13 fehlen Ressourcen und Frieden. Deren Nachholbedarf, so erklären die G7, gefährdet alle. Das lässt sich jetzt nicht mehr mit Wirtschaftssanktionen und Kriegen klären. Das sollte man für die letzte Runde der Kolonialkriege, die in Afrika (Äthiopien, Kongo, Ruanda, Mali, Tschad, Süd-Sudan) ausgetragen wird, vormerken. Ein geordneter Abzug der Besatzungstruppen, Stopp von Waffenlieferungen, Aufnahme bedrängter Flüchtlinge und Investitionen, deren Profite nur im Herkunftsland staatlich überwacht gezahlt werden, ein solidarisch geregeltes geistiges Eigentum, Respekt, Verständnis und Kenntnis anderer Kulturen wären Optionen, die Afghanistan zum Wendepunkt bei uns machen könnte.

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