Verstehen statt Verständnis (Ukraine I)

Russland hat die Ukraine überfallen. Es ist in fremdes Territorium einmarschiert und bombardiert Städte, Militär- und Industrieanlagen. Wieder sind die zivilen Opfer nur „Kollateralschäden“. Es ist ein Angriffskrieg und keine „spezielle militärische Aktion“. Anders als der fortdauernde Bombenkrieg der Saudis im Jemen oder Äthiopiens und Eritreas im Tigre, gegen die Taliban in Afghanistan und die Islamisten in Mali – die Nähe der Konfliktparteien zu Westeuropa schafft eine andere Betroffenheit. Entsprechend verzweifelt sind Zeitungs- und Rundfunkkommentare, die Slogans auf den Pappschildern der Großdemonstrationen und die farbliche Identifikation mit der Opfernation. Die Schuldfrage ist geklärt. Ist es damit auch die Konfliktlösung? Wird der Schuldige den Krieg beenden und die Waffen schweigen lassen? Je mehr wir das Grauenhafte des Krieges erfahren, umso fester wird unsere Überzeugung, dass die Guten gegen die Schlechten gewinnen werden. Doch wie soll das mit Atommächten gehen, die sich selber als Opfer und Verteidiger in einer eigenen Realität befinden?

Kann die Ukraine den Krieg gewinnen?

Die Kräfteverhältnisse sind ungleich. 42 Mio. Einwohner mit 200.000 Soldaten und 2.600 Panzern stehen 145 Mio. Einwohnern Russlands mit 850.000 Soldaten gegenüber. Es waren 100 ukrainische Flugzeuge, die 1.500 russische Maschinen abwehren sollten. Doch zeigt nicht der Kriegsverlauf der USA in kleinen Ländern, dass wer nur aus der Luft zerstören kann, zwar eine Trümmerherrschaft nicht aber eine Herrschaft über Menschen erreicht?

Die Ukraine ist zudem nicht allein. So lieferten Deutschland und die Niederlanden 1.000 Stinger Raketen in das Spannungsgebiet. Mit diesen Raketen gelang schon einmal den Amerikanern in den zehn Jahren sowjetischer Besatzung ab 1979 die Mujaheddin in Afghanistan so aufzurüsten, dass die sowjetische Lufthoheit der Kampfhubschrauber verloren ging und sie das Land verließen. Später wendeten sich die Raketen allerdings gegen ihre Lieferanten. Deutsche Panzerfäuste, polnische Düsenjäger aus Altbeständen, litauische DDR-Haubitzen, ständige Waffenlieferung aus den USA, Drohnen aus der Türkei und sogar Waffen aus Australien und Milliarden der EU und der USA für Rüstungskäufe treffen auf ein Volk, das die Verteidigung zur eigenen Sache gemacht hat.

Die 30 NATO-Staaten hätten noch weit mehr. Sie verfügen über 3,3 Mio. Soldatinnen und Soldaten und zählen drei Atommächte in ihren Reihen. Damit erreichen sie ein annäherndes konventionelles Kräftegleichgewicht. Der Krieg könnte also wie in Libyen 2011 und dem Irak 1991 oder 2003 enden oder gar endlos werden wie in Syrien und Afghanistan. Das Schicksal von Mossul und Mariupol ähnelt sich. Geht es so weiter, so wird es zum Krieg NATO gegen Russland auch ohne Beitritt der Ukraine. Schon jetzt kommen 15 km von der NATO-Außengrenze entfernt NATO-Ausbilder im Bombenhagel um, ohne dass die polnischen und US-amerikanischen Nato-Streitkräfte sie schützen können.

Riskieren wir den Weltkrieg?

Ungebremst wird ein konventioneller Krieg mitten in Europa einen Weltkrieg auslösen. Der abgestufte Gebrauch von Atomexplosionen unter der Erde, über dem Meer oder in den Steppen macht Atomkriege denkbar und befriedigt sie nicht.

Dann aber werden die größten Armeen der Welt in China, Indien aber auch in Pakistan und Nord-Korea nicht nur zuschauen. In der UN-Vollversammlung haben dem Antrag von Ukraine und NATO 141 von 193 Mitgliedsstaaten zugestimmt. Doch allein die Enthaltungen der BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Süd-Afrika) sowie Pakistans, des Kongo, Bangladeschs und Äthiopiens bedeuten, dass keine Mehrheit der Erdbevölkerung erzielt wurde. Dabei hat die Resolution die Invasion nur „beklagt“ und nicht wie ursprünglich vorgeschlagen „verurteilt“. Schon UN-Mitgliedsstaaten, die nur 4% der Weltbevölkerung vertreten, könnten zusammen eine Resolution mit Mehrheit verabschieden. Die Welt ist bereits gespalten, wir müssen es nicht erst provozieren. Dass durch die Sanktionen der G7 die Nachfragemacht von Ländern wie Indien nach Energie wächst, ergibt weitere Anreize, die Spaltung voranzutreiben.

Der Nato-Vertrag

Der NATO-Vertrag hat in Art. 5 einen Zwangsmechanismus zur Eskalation:

Die Parteien vereinbaren, dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird; sie vereinbaren daher, dass … jede von ihnen … Beistand leistet, … einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, …die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten.

„Ein Fußbreit nach Polen löst den Bündnisfall aus.“ So der britische Außenminister. Bombardiert Russland die Waffentransporte schon in Polen, Litauen oder der Slowakei, weil es darin Kriegsbeteiligungen sieht, dann wird dies die Kriegserklärung eines US-Präsidenten auslösen. Welche Waffen zurzeit wie geliefert werden, bleibt der Öffentlichkeit zudem verborgen.

Je „schuldiger“ die Angreifer desto lauter der emotionale Ruf nach Bestrafung und Gegengewalt. 6.255 einsatzbereite russische Atomwaffen sind in einen Voralarm versetzt und sollen nach Kreml-Sprecher Peskow dann eingesetzt werden, wenn Russland sich in seiner Existenz bedroht fühlt. Sie machen somit alle Siegesfantasien zunichte. Das Land, dessen schiere Größe schon die Invasionen der Mongolen (1223), der Polnisch-Litauischen Union (1612), Schwedens (1700), Napoleons (1805), Wilhelm II (1914) und Hitlers (1941) erschöpften, ist atomar gerüstet und mit der größten Wirtschaftsmacht der Welt verbündet. Inzwischen kämpfen Söldner verschiedener Länder auf beiden Seiten.

Der Klügere gibt nicht nach. Das Recht zum Verteidigungskrieg oder mit Unterstützung des UN-Sicherheitsrates Kriege zu führen, ist überholt, weil die Menschheit sich diese Gerechtigkeit nicht mehr leisten kann. Das Individual-Strafrecht ist da schon weiter. Gewalkt rechtfertigt Gegengewalt nur wenn sie „gegenwärtig“ abgewehrt wird.

Friedenschance einer Niederlage

Den Ukraine-Krieg beenden kann Russland, wenn es den Angriff einstellt. Die Ukraine kann sich unterwerfen. Wer wie der ehemalige NATO-Oberbefehlshaber Wesley Clark auf Sieg der Ukrainer setzt, wenn sie nur lange genug durchhalten, schafft keinen Frieden.  Auch die Presse hält einen unendlichen Krieg für möglich. Sie zählen nicht die Toten und Verletzten, die diese Lösung in Kauf nimmt. Ein Staat kann einen Krieg gewinnen, ein Volk verliert immer. Die polnischen Nato-Anträge, die Rufe nach der von der NATO durchgesetzten Flugverbotszone und die Artikel der britischen Times, alle gehen davon aus, dass man Falken nicht mit Tauben bekriegen kann. Bevor jedoch nicht jede Chance für Waffenstillstand und Frieden ausgelotet ist, werden mit Siegesversprechungen Menschenleben geopfert. Der Konsens über die gewaltige Aufrüstung der NATO-Staaten macht das „Friedenschaffen ohne Waffen“ und „Schwerter zu Pflugscharen“ obsolet. „Vorwärtsverteidigung“, „Schutz der Ostflanke“ und „Angriff als beste Verteidigung“ werden modern.

Der unbedingte Siegeswille verschenkt das Friedenspotenzial der Niederlage. Die großen Sieger der Geschichte wurden letztlich geschlagen. Ihre Verachtung für das Leben ihrer Soldaten und Zivilisten blieb im Gedächtnis haften. Wer, ob Angreifer oder Angegriffener nur noch die Nation vertritt, opfert die „wertlose Masse“ (Napoleon).

Der ideologische Krieg

Jeder Krieg wird physisch und psychologisch geführt. Ohne Rechtfertigung und Legitimität wird ein von Menschen genutztes Waffensystem nicht erfolgreich eingesetzt werden können.

Verstehen ist nicht Verständnis

Wer die Waffen zum Schweigen bringen will, muss verstehen, warum sie sprechen. Emotionen helfen hier wenig. Sie gehören auf den Kriegsschauplatz der Gefühle, wo ein Sieg total sein darf, weil aus ihm keine Rechtfertigung für Gewalt erwächst. Dass Facebook die Hate-Speech-Sperren für Gewaltaufrufe gegen Russland aufgehoben hat und sich damit als Waffe anbietet, ist das falsche Signal.

Verstehen betrifft die materielle Kriegführung, Verständnis die moralische. Beides kann nicht miteinander gleichgesetzt werden. Werden diejenigen, die sich mit Russland beschäftigen, um zu „verstehen“, ohne dabei in ein rechtfertigendes Verständnis abzugleiten, als „Putin-Versteher“ abgekanzelt, so werden Unwissen und Feindschaft zur Eintrittskarte für die Teilnahme an Bemühungen, ein Ende für den Krieg zu finden. Die, die einen Einmarsch in die Ukraine für unmöglich hielten und sich irrten, hatten sich gegen die täglichen Prophezeiungen derjenigen gewandt, die die abgespaltenen Gebiete mit Waffen zurückgewinnen wollten. Dass die Argumente am Kriegswillen Russlands abprallten, war nicht unvorhersehbar aber rational nicht nachvollziehbar. Gleichwohl sind sie auch heute nicht bedeutungslos. Die Kampfbereitschaft hat ein ideologisches Fundament, das man infrage stellen kann. Dazu aber muss man auch bei Unverständnis es verstehen können.

Verstärkt durch die modernen Kommunikationsmöglichkeiten bekommt die ideologische Darstellung eine kriegsentscheidende Bedeutung. Die Beteiligten unterscheiden zwischen eigener Information und gegnerischer Propaganda. Radio- und Fernsehsender werden gesperrt. Die Weiterverbreitung der ungeprüften Falschnachricht oder Lüge (verniedlicht als Fakenews), wird mit einer Exkulpationsklausel gerechtfertigt: die Nachricht lasse sich nicht durch unabhängige Quellen verifizieren. Warum dann diese Meldung und keine andere in dieser Form und nicht anders gebracht wird? Wer ARD und ZDF sieht kann, wenn er oder sie Englisch verstehen, immerhin noch CNN und BBC aber auch China Daily und Al Jazeera Nachrichten verfolgen. Russia Today ist gesperrt. Der Krieg wird zum Phantomkrieg. Tote und Verletzte, Sieg oder Niederlage, Geschichte und Bekenntnis hängen von den Kursgewinnen an den Nachrichtenbörsen in London ab. Wikipedia ist hier eine rühmliche Ausnahme aber als Nachrichtenplattform noch nicht eingeführt.

Vom Raub zum Recht

Zwischen 65 und 85% Zustimmung sollen Meinungsumfragen in Russland für den Krieg in der Ukraine erbringen. Putins Wiederwahl scheint gesichert. Doch wofür sie sind, bleibt unklar und wird nicht dadurch klarer, dass US-Präsident Biden seinen Amtskollegen in Russland als Killer bezeichnet und der französische Außenminister Le Maire den „totalen (Wirtschafts-)Krieg“ gegen Russland ausruft.

Bis ins 20. Jahrhundert waren die Kriege Raubkriege zur Eroberung und Kolonialisierung. Macht und Besitz reichten aus, um Verständnis für ein Kriegsziel zu haben. Ab dem zweiten Weltkrieg drängte sich der Wertekrieg in den Vordergrund. Man kämpfte im Namen einer Idee (Faschismus) oder zu ihrer Abwehr (Anti-Kommunismus). Kriege im Namen der Demokratie und Menschenrechte folgten. Als man schließlich die Angriffskriege ächtete wurden Kriege in Verteidigungskriege umgedeutet: „Seit 5.45 Uhr wird zurückgeschossen“ so verkündete Hitler den Überfall auf Polen am 1.9.1939. „Abwehr von Massenvernichtungswaffen“, die Überfremdung mit Systemen, Ideologien und Religionen wie dem Kommunismus (Vietcong), „Steinzeitislamismus“ (Taliban), „internationaler Terrorismus“ (Al Kaida), „Verwestlichung“ (IS) oder des Islam wie bei den „Uiguren“; „Rohingya“; „al-Shabaab“ oder der „Moro Islamic Liberation Front“ – Recht haben ersetzte den Raub.

Volk und Nation

Auch Russland will nach eigenen Worten sich nicht bereichern. Es will nicht okkupieren oder besetzen. 80 Jahre lang war es nur eine Republik in der „Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken“ (UdSSR) gewesen. Sowjetvolk bezeichnete diejenigen, die auf dem Territorium der UdSSR wohnten. Volk war die Nation). Heute leben nur noch 115 der 141 Mio. Volks-Russen („russkij“) im Gebiet der „russischen Föderation“ (= 80% der Nation Russischstämmiger), die sich 1991 zum Nachfolger der UdSSR erklärte. 36 Mio. Volks-Russen („rossijane“) leben jedoch außerhalb in Kasachstan (4 Mio. = 24%) , der Ukraine (8 Mio. = 17 %), Belarus (1 Mio. = 11%), Estland 380 Tsd. = 18%  oder auch in Israel (1 Mio. = 15%) und den USA (8 Mio. = 2,4%). Russische Territorien wie das Donbass haben sich in Transnistriern, Süd-Ossetien und Abchasien für selbständig erklärt. 1992 war für Russland ein Zusammenbruch und keine Neuordnung. Eine Nation braucht auch ein Volk.

Ebenso wie in Deutschland, wo im Grundgesetz die Nation als Volk bezeichnet und die Staatsangehörigkeit durch ein Amt bestätigt oder verliehen wird (Art. 116 GG; §4 STAG) verstehen Russen sich als Volk nicht durch Wohnsitz, sondern durch Abstammung und Kultur.

Die Bomben der Asow-Brigaden auf Luhansk und Donezk bezeichnen sie als Genozid. Der Maidan hat die ukrainische Nation in die beiden traditionellen Volksgruppen gespalten. Die Platzaufstände (Maidan 2014; Tian’anmen Beijing 1989, „Regenschirm“ Hongkong 2014, Tahrir Kairo 2011, Taksim Istanbul 2014)  waren wohl eher eine Rückkehr zum Volk als dessen Befreiung zur Nation wie in der französischen Revolution gedacht. Befreiungskriege sind selten nur Freiheitskriege. Das hat schon der Ausgang des „arabischen Frühlings“ gezeigt. Bestrebungen in Schottland, Nordirland, Katalonien, Südtirol, Quebec, Xinjiang, Mindanao, Arakan, Korsika gelten eher als durch Sprache oder Religion gerechtfertigte Abspaltungen denn als das Streben nach einer freiheitlicheren Ordnung.

Das hat damit zu tun, dass Machteliten das Volk als Legitimation entdeckt haben (Populismus). Feudaler Faschismus und Stalinismus erklärten die Freund-Feind-Unterscheidung durch Krieg (Carl Schmitt) sogar zum notwendigen Mittel, um in den Köpfen der Untertanen das eigene Volk zu erschaffen. Freiheit, Gleichheit, Sicherheit eignen sich zur Machtentfaltung weniger als „Und willst Du nicht mein Bruder sein, dann schlag‘ ich Dir den Schädel ein.“ (Reichskanzler v. Bülow 1903)

Russland – Ukraine

Die Ukraine ist hier in einem schwer auflösbaren Widerspruch. Im Verhältnis zu Russland ist sie ebenso ohnmächtig wie der Donbass im Verhältnis zur Ukraine. Der Dominanz der Russen über die Ukrainer in der Sowjetunion steht die Dominanz der Ukrainer gegenüber den Russen im eigenen Land gegenüber.

Klein- und Großrussen

Die „Kleinrussen“ der Zarenzeit verteidigten ihre kulturelle Eigenständigkeit gegen die „Großrussen“ aus Moskau. Der Georgier Stalin war nicht ihr Freund. Die große Hungersnot der UdSSR (Holodomor) traf vor allem die Ukraine. Auf Josef Stalin folgten dagegen zwei Freunde der Ukraine: Chruschtschow wuchs im Donbass auf. Er war von 1953 bis 1964 Generalsekretär der KPdSU und förderte die Ukraine. Er übergab ihr die Krim im Jahre 1954. Der gebürtige Ukrainer Breschnew war Generalsekretär der KPdSU von 1964-1982 inne. Auch er verdankte seine Karriere der Ukraine.

Das russische Kriegsargument im historischen Putin-Vortrag, man besetze ein Land, das zu Russland gehöre und befreie ein slawisches „Brudervolk“ ist Ausdruck der Kriegssicht nicht aber ihr Grund und erinnert an die Definition des Bruders durch den deutschen Reichskanzler.

Die „Kiewer Rus“ war nicht die Wiege Russlands. Schon der Begriff „Rus“ (dt. Ruthenien) deutet auf einen normannischen Stamm der Wikinger hin und weist damit auf die gewollte Fremdherrschaft der Slawen Anfang der Jahrtausendwende. Das 11. Jahrhundert war aber nur ein Schritt auf dem Weg zum russischen Reich. Dessen Entwicklung wurde ab 1223 n. Chr. für 150 Jahre durch die Mongolenherrschaft („goldene Horde“) unterbrochen. Der eigentliche Neuanfang war dann nicht in Kiew, sondern in Moskau. Die Ukraine aus dieser Sicht nur das „Grenzland“ (so die Übersetzung von Ukraine). Sie waren „Kleinrussen“ und hatten Polen und Litauer abzuwehren, die die westliche Rus beherrschten und Russland bedrohten. Der dritte Teil war Ruthenien (Belarus). Die Verlagerung der Hauptstadt Russlands im Jahre 1712 nach St Petersburg endete mit der Oktoberrevolution 1918. Moskau ist seitdem wieder der Repräsentant von Großrussland. Was die Ukrainer sein wollten haben sie 1991 in einer Volksabstimmung mit 90% bestimmt. Die Zugehörigkeit zu Russland war es nicht.

Ukraine – Donbass

Der Donbass und die Krim sind durch russische Kultur und Sprache dominiert. Das zeigte sich auch in den Wahlerfolgen der „Partei der Regionen“.  Auch ethnische Ukrainer sprechen dort Russisch. Die Bevölkerung betrug dort 2016 6,8 Mio. Bei der Krim mit 2,3 Mio. Einwohnern sind 60% russisch, 25% ukrainisch.  Dies ist nach der Vertreibung der muslimischen Tartaren unter Stalin historisch bedingt, da die Krim zwischen Osmanischem Reich und Russland wechselte in einer Zeit, in der die Ukraine keine eigene Staatlichkeit hatte.

Im Donbass mit den Bezirken („Oblast“) Donezk und Luhansk hatte die Industrialisierung durch die Kohlevorkommen ab Ende des 19ten Jahrhunderts den Zustrom russischer Arbeiter befördert. Sie fassten vor allem in den Städten Fuß, während die Landbevölkerung ukrainisch blieb. Der Niedergang der Kohle hat auch dieses Gebiet stark beeinträchtigt. Verteilungskämpfe um die Mittel aus Kiew führten mit dem Maidan zu ökonomischen Veränderungen, die die Abspaltung 2014 begünstigten.

Zwischen dem Donbass und der Zentralregierung begann 2014 ein zermürbender Krieg, bei dem die Zentralregierung, unterstützt durch EU und USA gegen Soldaten aus dem Donbass wohl verstärkt durch russische Freiwillige um die Herrschaft in diesem Gebiet kämpften. Dabei wurden die beiden Oblaste weit hinter die Verwaltungsbezirkslinie zurückgedrängt. Am 24.2.2022 erfolgte dann der Einmarsch regulärer russischer Truppen, die dann bis Anfang April die ukrainischen Truppen bis auf die Linie der Bezirke zurückdrängten. Im Minsker Abkommen (Minsk II), dass die Ukraine (Poroschenko) und Russland (Putin) auf Initiative und Druck der EU durch Frankreichs (Hollande) und Deutschlands (Merkel) ausgehandelt und am 12.2.2015 unterzeichnet hatten, wurde das bis dahin wirkungslose Minsker Vorläuferprotokoll vom 5.9.2014 mit Maßnahmen wie insbesondere einem Waffenstillstand und Gesprächen über regionale Wahlen für autonome Sonderregeln belegt.

Beide Seiten erklärten das Abkommen später für nichtig. Immerhin stellt es bisher die einzige von allen Parteien akzeptierte vertragliche Grundlage zur Beendigung der Kämpfe in der Ukraine dar.

Aggression und Angst

In einer globalisierten Weltwirtschaft ist Raub teurer als Handel. Wo keine rationalen Lösungen zum Niedergang verfügbar sind findet die Rückkehr zu archaischen Reaktionen eines in die Ecke gedrängten Raubtiers aber weiter statt.

Größenwahn und Eroberungskrieg

Die Überzeugung, dass man mit eigener militärischer Stärke eher im Vorbeigehen Regierungen stürzen und ganze Länder erobern kann, gleicht einem Größenwahn, der den Bezug zur Realität verloren hat. In der Hitler-Parodie „Der große Diktator“ lässt Charlie Chaplin seinen Hinkel selbstverliebt mit der Weltkugel Fußball spielen. Die Lust an der Macht ist gekoppelt mit der Angst vor dem Machtverlust durch andere. Paranoia und Hybris ergänzen sich. Während die Hybris als realitätsferner Wahn auftritt, ist die Angst, die sie überdecken soll, real. Daher spricht Vieles dafür, dass Wladimir Putin bei der Bevölkerung weniger mit seiner eigenen Stärke als mit der Angst vor fremden Mächten Gefolgsleute findet. Eine Anti-Kriegs-Politik sollte daher versuchen zunächst die Ängste der Russen wahrzunehmen, um soweit es in ihrer Macht liegt, diesen Ängsten die Grundlage zu entziehen. Diese Erfahrungen machen vor allem Menschen, die Tieren aggressiver Verhalten nehmen wollen.

„Balken im Auge“

Presse und Politik des Westens erklären uns in großer Einmütigkeit die Schuldfrage. Dahinter steckt eine sehr selbstgerechte Überzeugung, dass so etwas in unserem System nicht vorkommen könne. „Wenn alle so wären wie wir, dann gäbe es keine „terroristischen Angriffskriege“, keine „Hardliner-Autokratie“, keinen „enthemmten“ oder „größenwahnsinnigen Despoten“, keinen „geisteskranken Diktator“, keinen „Schlächter“, „Killer“, kein „Mörderregime“, keine „lupenreine Diktatur“, keinen „zweiten Hitler“ usw.. Doch kann die Schmutz-Fontäne einem Fakten-Check standhalten? Ist Hitler nicht aus der Weimarer Republik hervorgegangen? War Mussolini nicht sozialistischer Redakteur, Franco spanischer General, Pétain französischer Marschall? Haben amerikanische Bomber nicht 100.000de in Libyen, Irak, Syrien, Vietnam, Korea, Laos, Kambodscha und Afghanistan auf dem Gewissen? Über Hitler und den Tenno brauchen wir gar nicht zu sprechen. Und was ist mit den in die 100.000de gehenden Tötungen der Kolonialmächte allen voran Englands, Frankreichs, Hollands und Belgiens und die Opfer der Amerikanisierung des Doppel-Kontinents durch die Europäer?

Russische Angst

Putin selber beteuert, dass er Angst vor dem in der NATO zusammengeschlossenen Westen hat, dessen Verhalten nach Brexit und Trumps Sturm auf das Kapitol unkalkulierbar geworden ist. Tatsächlich haben sich die West-Mächte nach 1992 militärisch über die NATO schrittweise (Polen, Baltische Staaten, Rumänien, Bulgarien, Slowakei, Tschechien, Ungarn, vier Balkanstaaten) das traditionelle Gebiet des Warschauer Paktes und seiner Sicherheitszonen kleiner Länder rund um Russland einverleibt. Putin hatte 2008 bereits beim NATO-Russland-Treffen gesagt, dass beim Beitritt der Ukraine zur Nato Russland ohne die Krim, Sewastopol und die Ost-Ukraine zu verletzlich sei. Inzwischen steht der Beitritt als Ziel sogar in der ukrainischen Verfassung. Die aktuell geforderten Sicherheitsgarantien sind nicht neu. Die Nato machte deren Bedeutung mit Militärmanövern nahe der russischen Grenze („Tobruq Legacy 20“; Baltop 2021; „Defender 2021“ etc.) deutlich.

 

Die Erinnerung an den Nationalsozialismus

Neofaschistische Regierung?

Diese Erinnerung trifft auf ein kollektives russisches Gedenken daran, das vom Westen her Napoleon, Wilhelm II und Hitler die Eroberung versucht hatten.  Allein der zweite Weltkrieg hatte in Russland 14 Mio. Zivilpersonen und 13 Mio. Soldaten das Leben gekostet. Für das unterlegene Deutschland lagen die Zahlen bei 6 Mio. und 1 Mio. Mit ihrer Forderung nach Entnazifizierung der Ukraine könnte ein Gefühl der Vergeltung gegen alle, die an den Morden beteiligt waren, entfesselt werden. Der Kalte Krieg hatte den Kommunismus und seine Identifikation mit Russland wieder aufgenommen und schon damals der Täternation die Möglichkeit gegeben, praktische ohne Kriegsreparationen selber zur ökonomischen Großmacht in Europa zu werden. Auf diese Demütigungen ist der Westen nicht eingegangen. In der Ukraine scheinen sich mit den Zielen der „Entnazifizierung“ und der Abwehr der von den USA geführten NATO-Bedrohung beide Ebenen zu vermischen, was die verworrene Geschichte der wechselhaften Beherrschung der Ukraine verdecken kann.

George F. Kennan, 1944 bis zu seiner Ausweisung 1951 Mitglied der US-Botschaft in Moskau und danach außenpolitischer Berater der US-Regierungen hielt 1997 die Nato-Ostererweiterung für den

„verhängnisvollsten Fehler der amerikanischen Politik in der Ära nach dem Kalten Krieg, weil diese Entscheidung erwarten lasse, dass die nationalistischen, antiwestlichen und militaristischen Tendenzen in der Meinung Russlands entzündet werden; dass sie einen schädlichen Einfluss auf die Entwicklung der Demokratie in Russland haben, dass sie die Atmosphäre des Kalten Krieges in den Beziehungen zwischen Osten und Westen wiederherstellen und die russische Außenpolitik in Richtungen zwingen, die uns entschieden missfallen werden.“ (Wikipedia)

Schon im Krimkrieg 1862 hatten die vier europäischen Großmächte Frankreich, England, Preußen und Österreich die Auseinandersetzung zwischen Russen und Türken benutzt, um Russland aus der Gruppe europäischer Großmächte auszuschließen.

Genozid?

Die russische Regierung hat ihren Krieg mit einer faschistischen bzw. neo-nazistischen Gefahr begründet und einen geplanten Genozid an russischen Volkszugehörigen in der Ukraine angeführt. Sie will damit wohl an die Traumata des zweiten Weltkrieges im russischen Volk anknüpfen. Hitler-Deutschland hat die Slawen (also Russen und Ukrainer) zu „Untermenschen“ (Himmler) erklärte, die den Juden gleichgestellt im Krieg ausgerottet werden sollten. Auf die rassistischen Kennzeichen der Genozide, wie sie an Juden, Armeniern, Tutsi oder bosnischen Muslimen verübt wurden, in der internationalen „Konvention zur Verhinderung und Bestrafung des Genozid-Verbrechens“ (CPPCG)  aus dem Jahre 1948 aufgelistet und in den Strafgesetzbüchern von über 80 Staaten festgehalten sind, geht die russische Regierung nicht ein.

Sie will die Rückeroberung der Dombass-Gebiete von den Separatisten durch die Ukrainische Armee entsprechend einfärben. Tatsächlich handelt es sich um ein anderes Problem: der Entwicklung eines Bürgerkrieges von einer Polizeiaktion in einen militärischen Krieg gegen Teile der eigenen Bevölkerung. Die NATO rechtfertigte damit ihr Eingreifen in den Krieg der Lybischen Armee Gaddafis gegen Aufständische aus dem eigenen Volk. Die dabei offenbar werdende Spaltung des Landes in Ost (Benghasi) und West (Tripoli) ist bis heute nicht überwunden und nährt einen nicht enden wollenden Bürgerkrieg.

Entnazifizierung?

Es gibt auch historische Linien, in deren Zentrum vor allem das Schicksal der Juden in Galizien steht, die nach 1910 nach Religionszugehörigkeit noch 11% der Bevölkerung ausmachten, die von den Nazis vernichtet wurden. Wer dem entkommen konnte wanderte nach Israel oder den USA aus. Die Konflikte zwischen Ukrainern, Polen, Russen, Litauern und Deutschsprachigen in Galizien waren historisch immer auf ihre Kosten ausgegangen. Israel wäre als Vermittler im aktuellen Krieg prädestiniert.

Die Feindschaft zwischen Russen auf der einen Seite und Ukrainern, Balten ist immer noch geprägt von einem Genozid, in dem die Russen im Gegensatz zu anderen Kriegsgegnern der Deutschen gezielte Opfer ihres Massenmordes und der Vernichtung durch Arbeit waren. 3,3 Mio. Russen wurden auf diese Weise Opfer der Nazis. Die Frage dazu, welche Anteile Kollaborationsregime wie in den Niederlanden, Nord-Frankreich oder Norwegen hatten, wird jetzt auch im Osten diskutiert, nachdem die Blockbildung dies lange unterdrückt hatte. Der ukrainische Botschafter in Deutschland Melnyk hat mit seiner Verehrung für den in Israel und Polen als Faschist bezeichneten Nazi-Kollaborateur Stepan Bandera („Volksheld“) scharfe Reaktionen herausgefordert. In der Ukraine sind Hunderte von Straßen nach Bandera benannt.

Die Asow-Brigaden mit 3500 Gardisten orientieren sich an Bandera. Sie bestehen aus Freiwilligen, führen unter Beteiligung von Söldnern aus dem Ausland seit 2014 ein Eigenleben in der ukrainischen Nationalgarde und spielten nach dem Minsk II Abkommen bei der Rückeroberung im Donbass ebenso wie bei der Verteidigung von Mariupol im Donezk-Becken eine führende Rolle. In Ursuf, 30 km entfernt von dem umkämpften überwiegend russisch-sprachigen Mariupol, wo ansonsten Ukrainer und Russen ethnisch gleich stark vertreten sind, haben sie ihren Stammsitz. Sie spielen im Krieg eine führende Rolle, berufen sich auf Bandera und benutzen Runenzeichen, die an die SS-Runen erinnern. Teilweise wurden sie auch mit SS-Tätowierungen fotografiert. Über die Nähe zu faschistischen Methoden, Folter und Rechtsextremismus wird in Wikipedia ausführlich berichtet. Am 11.6.2015 stellte der US-Kongress mit Bezug auf ihre Nähe zum Neo-Nazismus seine Unterstützung der Brigaden ein.

Obwohl die Brigaden im Innenministerium einigen Einfluss haben, bestimmen sie nicht die ukrainische Regierung. Dasws der Staatspräsident Selenskyj selber Jude ist spielt dabei allerdings keine Rolle. Die Brigaden sehen im Antisemitismus kein wesentliches Element ihres Faschismus. Sie wurden u.a. von Natan Hasin gegründet und dem Oligarchen Ihor Kolomojsky unterstützt. Beide sind bekennende Juden.

Die Ukraine lässt sie gewähren. Die ihnen nahestehenden Traditionsverbände trennen SS-Leute nicht von sowjetischen Soldatengräbern. Das Urteil gegen den u.a. in Sobibor und Treblinka eingesetzten ukrainischen KZ-Gehilfen Demjanjuk warf 2011 ein spätes Schlaglicht auf die Kollaboration. Es wurde in der Ukraine abgelehnt. Die OUN und die Waffen-SS Galizien spielen dabei immer noch eine zentrale Rolle. Massenerschießungen und Deportationen von Juden in Riga (Litauen), Lemberg (Ukraine) sowie vor allem in Kiew (BabynJar) erhielten ihre aktive Unterstützung. Bandera kollaborierte mit ihnen.

Doch ihr direkter politischer Arm ist eine kleine Minderheit jenseits der 5%-Klausel. Sie haben Gesinnungsgenossen auch in Russland und Polen sowie beteiligen sich an den internationalen Zusammenkünften und Konzerten der NS-Black-Metal-Szene.

Inwieweit dagegen die rechtsextreme, antisemitische und Russenfeindliche Swoboda-Partei der parlamentarische Arm der Neo-Nazis ist, ist umstritten. 2013 erklärten das Europaparlament ebenso wie die Bundesregierung, dass sie Swoboda, die beim Maidan den stellvertretenden Ministerpräsidenten stellten, als rechtsextrem einstufen, mit denen Kollaboration ausgeschlossen sein solle. Das Programm von Svoboda ist eindeutig rassistisch. Der jüdische Weltkongress forderte im selben Jahr das Verbot. Gleichwohl bleibt die politische Bedeutung in der Gesamtukraine unter 5%, auch wenn sie in einer Oblast über 18% der Stimmen erreichte.

Die fehlende Aufarbeitung des Zweiten Weltkrieges

Das Problem liegt im gegenseitigen Hass zwischen Russen und ethnischen Ukrainern, die, ob sie es wollen oder nicht, zu Vertretern der westlichen Wertegemeinschaft, der Demokratie schlechthin, von Menschenrechten und Freiheit erklärt und dafür weltweit unterstützt werden. Für die Russen aber ist es jedenfalls nach ihren eigenen Bekundungen die Vollendung der Befreiung Europas 1945, um deren Früchte sie betrogen wurden.

Man fühlt sich ausgeschlossen, gedemütigt, abgehängt. Milliardeninvestitionen in eine Pipeline werden entschädigungslos enteignet, ein kleines Schiedsgericht in den Haag verurteilt Russland zu Milliarden Strafzahlungen an abtrünnige Oligarchen in der Schweiz. Die Mehrheit der Richter in Straßburg behandeln die Regierung als Kriminelle. Im Sport passiert Gleiches. Sie werden in die Ecke gestellt, als ROC gekennzeichnet oder ganz ausgeschlossen. Die russische Opposition hat überall in der Welt eine Stimme, die Russland bescheinigt, dass es die Aufnahme in die demokratische Wertegemeinschaft des Westens geschafft hat. Es bleibt nur der wenig lukrative Platz bei den Außenseitern und Geächteten wie Iran, Syrien, Cuba, Venezuela oder Serbien oder bei rechtsradikalen Außenseitern der Politik. Die Unterstützung von China, Korea, Vietnam, Laos und Kambodscha gegen die USA zahlte sich nicht aus. Aus dem Club der Reichen (G7) und dem Europarat sind sie ausgeschlossen. Selbst bei der G20 versucht man es genauso wie bei den Konzerten ihrer Weltstars. Aus den sozialen Netzwerken und dem Zahlungsverkehr hat man sie entfernt, Geschäftskontakte werden eingestellt und Waffen an alle Anrainerstaaten geliefert, die Russland als Feind ansehen.

Ernst genommen werden sie nur noch da, wo sie militärisch auftreten, wobei ihr konventionelle Macht lächerlich gemacht wird. Allein dort, wo sie mit ihrer Nuklearmacht drohen, wird es still.

Das ist eine verheerende Entwicklung. Der Westen steuert sich selbst in eine Sackgasse, die mit Sprengstoff angefüllt ist, der jederzeit insgesamt oder in Stufen gezündet werden kann. Die Alternative bestünde im Zusammenschluss des bevölkerungsreichsten mit dem land- und ressourcenreichsten Staat der Erde mit genug Wirtschaftskraft und geo-politischer Macht, um sich Gehör zu verschaffen. Allein Russland ist hier schon nicht mehr attraktiv genug. Die Seidenstraßeninitiative mit über 100 Staaten könnte ein Anfang sein, der die Blöcke überspannt.

Bleibt als dritter Weg nur der Aufbau eines Europas, das seine Vergangenheit bewältigt, die Diplomatie wiederentdeckt und sich gegenseitig auf der Ebene der Nationen mit Respekt begegnet.

Europa braucht Russland, Russland braucht Europa.

Russland ist kulturell und politisch ein Land, ohne das Europa mit der kolonialen Vergangenheit in Süd- und Nord-Amerika, Afrika und Asien weltpolitisch neben China und den USA keine Chance hat. Die drei großen Sprach- und Kulturtraditionen in Europa (germanisch, romanisch, slawisch) sind nur „in Vielfalt geeint“ (EU-Motto 2000) das Fundament für Entwicklung nicht aber im Streit. Das bei weitem größte Land der Erde wird seine Bodenschätze bei gleichzeitiger Erhaltung der Natur nicht ohne die Unterstützung anderer nutzen können. Wirtschaftsboykotte, Einkreisung, Aufrüstung lassen Koalitionen entstehen, die man nicht zum Gegner haben möchte. Die US-Amerikaner haben, wie ihr Ex-Präsident Trump verkündete keine materiellen und je nach Regierung auch keine eigenen ideellen Interessen in Europa. Sie sind zunehmend mit sich selbst und ihrem Kontinent beschäftigt.

Europa bräuchte eine NATO in der Form, wie sie es selbst 1997 mit der „Partnerschaft für den Frieden“ verkündete, die zum Vorbereitungslehrgang für Vollmitgliedschaften verkam.

Auch der Europarat, der 1952 immerhin die dann gescheiterte Idee einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft verfolgte, stellt mit seinem Gerichtshof für Menschenrecht den messianischen Ansatz über die Kooperation. Russland wurde nach der Krim-Besetzung von 2016 bis 2019 und dann wieder 2022 das Stimmrecht und kurz darauf die Mitgliedschaft entzogen.

Die Gegnerschaft zu Russland und seiner Landbrücke nach Asien ist damit zum Urgrund aller Organisationen geworden. Trotz ihrem Anspruch Europa zu vertreten hat keine der Organisationen das Ideal, die Wohnbevölkerung Europas auch als Nation zu begreifen. Das Bekenntnis zu einem (West-)Europa der Werte und damit die Kompatibilität zwischen den Systemen der alten Kolonialmächte und den anderen ist Voraussetzung. Frei vom Volk steht dem freien Volk gegenüber.

Bleibt die OSZE, die die Helsinki-Prinzipien der Konferenzen für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) von 1952 organisatorisch verfestigte und allen in Europa befindlichen Staaten Mitgliedsrechte verlieh. Die 81 Seiten der Schlussakte von Helsinki vom 1.8.1975 zeichnen ein detailliertes Idealbild diskriminierungsfreier Zusammenarbeit. Allein das Übermaß an Wunschvorstelllungen, der Mangel an Durchsetzungsmechanismen, die Beschränkung von Kooperation auf Kommunikation ohne organisatorische Vorkehrungen und Zwänge und schließlich die Geschwätzigkeit des Textes machen das Dokument mit seinen „Vier Körben“ über Gewaltverzicht, Wirtschaftskooperation, Freizügigkeit und Kommunikation zu einem zu dem logisch schwer nachvollziehbaren Papiertiger. Von Anfang an waren die USA und Kanada Vollmitglieder dieser „Organisation …in Europa“, die dann noch die ehemaligen Sowjetrepubliken in Zentralasien einschließlich der Mongolei aufnahm. Sie wirkt eher wie ein Bollwerk gegen China und seiner Seidenstraßen-Initiative, die sich auf wirtschaftliche Kooperation beschränkt und Verträge mit über 100 Staaten Eurasiens und Afrikas unabhängig von Wertegemeinschaften und politischem System geschlossen hat.

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