Krieg um Anerkennung (Ukraine III)

Diplomatie ist der ernsthafte Versuch zu Verhandlungen, bei denen die Interessen der anderen Partei erkannt und deren Identität respektiert wird.

Wir wollen, dass dieser verdammte Krieg endlich aufhört. Aber wir wissen nicht einmal wer gegen wen kämpft und Wofür? Russland gegen den Rest der Welt, die USA, NATO, NATO-Erweiterung, abtrünnige Satelliten oder gegen den Ausschluss aus der westlich dominierten Globalisierung, angeführt von den G7, IMF, OECD, Weltbank, Europarat, EU etc.? (Fortsetzung Ukraine II)

Zielerreichung oder Genugtuung?

Ein Krieg hört auf, wenn die kriegführenden Parteien die Waffen niederlegen. Sie sagen, das passiere, wenn sie ihre Ziele erreicht haben. Doch ist das möglich?

Die Ukraine will den politischen wie geografischen Zustand vor der Krim-Besetzung wiederherstellen. Russland will den Donbass nach Eroberung von Krim und Luhansk auch in der ganzen Oblast Donezk beherrschen. Die von den Kriegsparteien unterschriebenen Waffenstillstandsvereinbarungen im Normandie-Format (Minsk I u. II) zeigen, dass hier zumindest Kompromisse denkbar wären.

Doch es gibt immer neue Kriegsziele. Je nach militärischem Erfolg werden sie erweitert oder reduziert. Für Moskau war es zunächst die Einnahme Kiews, um dort eine neue Regierung zu installieren. Als es nicht mehr möglich erschien beschränkte man sich auf den Süden. Mit dem Erfolg im Donbass lebt es wieder auf. Die USA und die Mehrheit in der NATO wollen, dass bis zu einer sichtbaren Schwächung der russischen Militärmacht gekämpft, Präsident Putin gestürzt und weitere Angriffe unmöglich  gemacht werden. Für die ukrainische Regierung, Polen und die baltischen Staaten zählt nur ein eigener „Sieg“ inklusive Schadensersatz und Wiederaufbau mit Beitritt zu NATO und EU als Garant wirtschaftlicher Entwicklung. Russland will dagegen eine Entnazifizierung der Ukraine. In den eroberten russischsprachigen Gebieten Cherson und Saporischschja sollen Volksabstimmungen Satellitenstaaten ermöglichen. Vielleicht aber geht es auch geostrategisch um die 1000 Jahre alte Beherrschung des Schwarzen Meers.

Alles ist unklar. Nach Jahrhunderten nationalen und kulturellen Verbundes mit „Kleinrussland“, der zwischen 1922 und 1992 zur Symbiose führte, die Ukraine einverleiben, ausplündern? Oder will es verhindern, dass sich an seiner Grenze NATO-Truppen festsetzen, die unter amerikanischer Führung das ukrainische Militär ausbilden und bewaffnen und einen weiteren Wahlsieg verhindert? Der Wahlsieg der philo-russischen „Partei der Regionen“ 2010 dauerte nur bis 2013/4 , als man Wiktor Janukowytsch ins russische Exil jagte.

Selbstschädigung oder Amoklauf?

Unterstellt man, dass Angriffskriege dem Angreifer einen Vorteil verschaffen sollen, dann ist dieser Krieg absurd. Er bestraft den Angreifer mindestens ebenso wie den Angegriffenen. Zwar hat das Herauslösen Russlands aus der westlich dominierten Globalisierung schon früher angefangen. Doch nach dem Einmarsch wird die ganze Selbstschädigung offenbar. Wissenschaft, Forschung, Technologie, Kultur, Klimaschutz, Kapitalaufnahme etc. werden leiden.  Entgegen allen Vorhersagen rückt auch das russische Volk nicht von Krieg und Regierung ab. Glaubt man den Meinungsumfragen so gilt sogar das Gegenteil. Die ukrainische Ukraine wird immer mehr zum Feind aller Russen.

Russland reagiert wie ein verstoßenes Kind, dass das kaputt machen will, von dem es glaubt kaputt gemacht worden zu sein. Allzu lange, so die Volksmeinung, habe es bettelnd vor einer Tür gesessen, die das jenes Europa verschließt, dessen Zentralen wirtschaftlich, militärisch und rechtlich in den BENELUX-Staaten stehen und doch beansprucht, nicht nur ganz Europa zu repräsentieren, sondern in den Worten von Selenskyj sogar die ganze „freie Welt“ oder sogar die „Freiheit in der Welt“ . Die soll zudem die Inkarnation von Demokratie, Gleichheit, Recht und Moral sein. Das wird in den Ländern wie in Vietnam, Kambodscha, Laos, Korea, Serbien, Libyen, Afghanistan, Irak, Jemen und Syrien, in denen amerikanische Bomben mit ähnlichen Argumenten gerechtfertigt wurden, teilweise anders gesehen. Ging es nicht auch um Öl, Wirtschaftsmacht, Eigentum, Einfluss? Waren sie nicht historisch daran gewöhnt nicht nur kolonial fremdbestimmt, sondern ständig abgewertet worden zu sein?

„Demütigung“

Es ist schwer, die wahren Beweggründe für den russischen Amoklauf herauszufiltern. Die Kriegsberichterstattung des Westens kommt aus dem Verbund zwischen englischem Verteidigungsministerium und US-amerikanischen Geheimdienst in London. Die Kommentare liefern eilig errichtete Stiftungen. Russia today ist abgeschaltet, russische Zeitungen sind in einer englischsprachigen Welt unzugänglich.

Die russische Kriegspropaganda wiederum ist wie alle Kriegspropaganda Teil der militärischen Strategie und wenig hilfreich, um die wahren Beweggründe zu erfahren. Vielleicht hilft der Blick nach China. China daily lässt erkennen, dass Russland nicht nur durch Sanktionen materiell behindert wird. Die Ausschlüsse in Sport, Kultur, Konferenzen, Projekten und Wissenschaft werden als Angriff auf das Selbstwertgefühl eines Volkes aufgefasst. Die amerikanische Parteinahme für ein unabhängiges Taiwan oder Hongkong könnte für China dieselbe Bedrohung der nationalen Identität bedeuten wie die für Russland der amerikanische Waffen- und Wirtschaftskrieg für die Ukraine.

Die amerikanischen Stellungnahmen vor allem der Demokratischen Partei haben durchweg demütigenden Charakter.  Für Obama war Russland eine sekundäre Macht, Biden will es wie ein unartiges Kind „bestrafen“, Pelosi sinnt darüber, ob Putin Krebs oder Long Covid hat. Die ganze Kriegsrhetorik im Westen reduziert Russland zudem auf seinen Präsidenten. Es macht Russland erst beleidigungsfähig.  „Grausam, (geistes)krank, Lügner, Tyrann, Despot, Diktator“ treffen letztlich auch die russische Nation, die ihn gewählt hat und zu ihm zustehen scheint. Dabei ist die Demütigung selber keine Schädigung. Den Inhalt des Versailler Vertrages hätte man auch ohne Demütigung vermitteln können. Minsk I und II waren ein Hoffnungsschimmer für die Diplomatie, die Telefonate der machtbewussten Regierungschefs danach mit ihren Drohungen und Strafen dagegen eher das Gegenteil.

Dass es auch diplomatisch und zudem erfolgreicher geht zeigen die Getreideabkommen, die Erdogan vermittelt hat. Er weiß aus eigener Erfahrung, wie empfindlich das Bewusstsein nationaler Identität ist, wenn man Jahrelang an der Türschwelle der EU gekratzt hat und sich als unreif gerade von denen eingeordnet findet, die aus kolonialer Gier die Pforte aus Nordafrika und Arabien vertrieben haben.

Diplomatie verlangt Respekt

Den Friedens- bzw. Kriegsplan für den Russland-Ukraine – Konflikt schreibt bisher das Militär. Das Erreichen der Kriegsziele schließt den Frieden aus. Wesentliches Kriegsziel ist die Herstellung eines Nationalgefühls nicht nur in Russland, sondern auch in der Ukraine oder Polen. Kriegsziele, bei denen Kompromisse möglich sind, spielen erst eine Rolle, wenn die Diplomatie wieder die Oberhand gewinnt. Angesichts einer sehr einheitlichen Presse und geschlossener NATO-Politik sieht es so aus, dass eine Regierung, die sich zur Diplomatie bekennt und sie auch mit Respekt vor dem Gegner verknüpft, die veröffentlichte Meinung und das Wahlvolk gegen sich hat.

Dies wird unweigerlich kommen, wenn die militärische Option mit ihrer ideologischen Absicherung in den Augen der Bevölkerung spürbare Nachteile bringen und die Isolation Russlands in der Welt von einer unter Trump begonnenen Isolation Amerikas begleitet wird. Entscheidend für die Motivation neu aufflammender Kriege wird der Identitätsfindungsprozess  in den Staaten der „anderen Welt“, wie die tiers monde korrekt übersetzt  wäre, sein. Die Erniedrigungen und Demütigungen durch die Kolonialmächte, Japan und die USA werden gerade erst realisiert. Die Möglichkeit sich dem System der ehemaligen Kolonialherren zu entziehen und eine eigene respektierte Identität aufzubauen entwickelt sich in Asien, wo China, Indien, Russland, Indonesien, Pakistan und Malaysia Kriege an sich nicht mehr nötig hätten. Sie müssen sie zumindest nicht mehr existenziell fürchten.

Identität

„Der Mensch ist das Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse.“ hielt Marx dem Philosophen Feuerbach entgegen. Er glaubte dies sei nur objektiv so und für ihn unausweichlich. Doch weit wichtiger war die subjektive Komponente mit der Versuchung, die gesellschaftlichen Verhältnisse seinem eigenen Identitätsgefühl anzupassen und über die Gestaltung der Gemeinschaft das zu bekommen, was man am meisten entbehrte: seine Individualität. Parteiführer, Populisten, Militärs und Propheten boten dafür Identifikationen an, die sich in identitären und rassistischen Wahnvorstellungen ad absurdum führen. Doch der Missbrauch ändert nichts daran, dass jeder Mensch nicht nur eine Identität hat, sondern sie auch durch die Kultur seines Volkes bzw. seiner Nation spüren muss.

„Identität (Abstraktum zu lat. īdem ‚derselbe‘) ist die Gesamtheit der Eigentümlichkeiten, die eine Entität, einen Gegenstand oder ein Objekt kennzeichnen und als Individuum von anderen unterscheiden. In ähnlichem Sinn wird der Begriff auch zur Charakterisierung von Personen verwendet. Dabei steht psychologisch und soziologisch im Vordergrund, welche Merkmale im Selbstverständnis von Individuen oder Gruppen als wesentlich erachtet werden. So folgt die rechtliche Identitätsfeststellung den für Inklusion und Exklusion relevanten Markern moderner bürgerlicher Gesellschaften.“ (Wikipedia)

Der Kapitalismus hat dieses Gefühl bei den Reichen monopolisiert. Er hat den kolonialisierten Nationen im Commonwealth oder den überseeischen Provinzen Frankreichs das Gefühl der Kolonialmächte auferlegt und den Ureinwohnern gänzlich verwehrt. Inzwischen wachsen die rechtsradikalen Bewegungen, die deutlich machen, dass der Kapitalismus den Wohlstand, den sein Ideal des self-made man (Clay 1842) als Kompensation für die Einsamkeit erfordert, nicht mehr garantieren kann.

Gemeinschaftsgefühl

Identität wurde historisch durch das Gemeinschaftsgefühl befriedigt. Der/die Einzelne haben ihren Platz in einem Volk kraft einer objektiven Zugehörigkeit durch Geburt. Dieser Status wurde ergänzt durch eine Zuordnung der Individuen zu Stellplätzen ihrer Existenz, aus denen sich Daseinsberechtigung und -sicherheit ableitete. Indem die übergeordnete Gemeinschaft, das Volk, sich mit Gewalt gegen andere schützte und erhielt, hatte das Volk eine Identität, die die Grundlage der Identitäten ihrer Untergliederungen und letztlich aller Mitglieder war. Gleichheit, Freiheit und Sicherheit waren in diesem hierarchischen System nur innerhalb der eigenen Untergemeinschaften denkbar. Dafür aber gab es Geborgenheit, Orientierungssicherheit, Solidarität, Fürsorge und Obhut sowie eine unsterbliche Seele.

Dieses System wurde dysfunktional, als Arbeitsteilung und Geld die Wirtschaft revolutionierten und Mobilität, Differenzierung und Individualismus verlangten. Die Vorteile der gesellschaftlichen Wirtschaftsweise kompensierten den Verlust für die Reichen. Sie waren so groß, dass aus dem materiellen Wohlstand Macht entstand. Das Machtungleichgewicht ermöglichte den Kolonialismus des 19. Jahrhunderts, der wiederum die Auflösung der Gemeinschaften und damit den Identitätsverlust der kolonialisierten Völker beförderte. Die durch die Vergesellschaftung erzielten Überschüsse blieben bis heute im Besitz der ehemaligen Kolonialmächte in der G7. Sie bestimmen mit der freiheitlichen Demokratie die Strukturen der einen „wahren“ Identität, an der sich die Anderen messen lassen müssen. Dass diese verlockende Identität des Westens materiellen Wohlstand und militärische Macht  erfordert, die in der anderen Welt der G13 (noch) nicht ausreichend vorhanden ist, wird übersehen.

Rückkehr zur Diplomatie

Wir brauchen eine Alternative zum Krieg, die dessen Ziele ohne Gewalt verwirklicht. Dabei ist das oft angeführte Zitat von Clausewitz (Vom Kriege 1832) „Krieg ist die Fortsetzung der Politik unter Einbeziehung anderer Mittel.“ keine Hilfe. Es wendet sich gegen den Krieg als Selbstzweck und ordnet ihn der Politik unter. Was wir brauchen ist eine Alternative zum Krieg. Das aber ist die Diplomatie. Sie setzt Institutionen voraus, die die gewaltfreie Kommunikation zwischen den kriegführenden Parteien ermöglichen. Diese Voraussetzungen liegen zur Zeit nicht vor. Die Ukraine hat die diplomatischen Beziehungen zu Russland am 24.2.2022 abgebrochen. Doch Diplomatie geht auch ohne diese Formalisierungen, wie das Getreideabkommen von Istanbul deutlich macht.

Diplomatische Beziehungen ergeben sich daher schon dort, wo die Parteien jede für sich in der Weise „diplomatisch“ verhält, wie es im Volksmund gesehen wird. Wikipedia hat vier Charakteristika zusammengestellt, von denen als Verhaltensmuster letztlich nur Ziff. 1 und 3 übrig bleiben.

„Diplomatisches Verhalten nennt man das Tun und Lassen eines Verhandelnden,

  1. das den Agierenden dabei Kompromissbereitschaft und den Willen bescheinigt, die Absichten und die Wünsche jedes Beteiligten zu erkennen;
  2. das sogenannte Win-win-Situationen sucht;
  3. das es möglichst vermeidet, andere Verhandelnde bloßzustellen oder in die Enge zu treiben;
  4. das geeignet ist, den langfristigen Nutzen zu maximieren.“

Diplomatie ist der ernsthafte Versuch zu Verhandlungen, in denen die Interessen der anderen Partei erkannt und deren Identität respektiert wird.

Davon sind die Kriegsparteien naturgemäß am weitesten entfernt. Andererseits haben die Enthaltungsstaaten bei der UN-Abstimmung dies weitgehend damit begründet, dass sie diplomatische Lösungen bevorzugen. Die EU sollte dazugehören. Ihre Presse könnte es versuchen. Massendemonstrationen für den Frieden könnten dies fordern. Die Behandlung der Russen als Verbrecherbande, das Umschalten auf einen Rückeroberungskrieg mit schweren Waffen der NATO, die Siegesmeldungen und das Fehlen von Wissen zum Konflikt deuten aber nicht in diese Richtung.

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