Am 11. September 2023 ist Uwe Wesel im Alter von 90 Jahren verstorben. Seine Karriere als Jura-Professor begann er 1968 an der FU Berlin. In Hamburg geboren in einen Arbeiterhaushalt, wie er oft betonte, war er ein zum 68zigertum „Konvertierter“, der seine traditionelle Ausbildung zunächst in Latein, (einer Sprache, in der er sich mit seinem Förderer, Prof. Kunkel fließend unterhalten konnte), begann, bevor er zur Juristerei wechselte, im römischen Recht promovierte und dort auch habilitierte. Das sei eine Nebensache gewesen, erklärte er mir. Ein paar Seiten Dissertation aufgeblasen zu einer Habilitation hätten gereicht, um in die heiligen Hallen juristischer Akademia eindringen zu können. Es war dann auch nicht in diesen Disziplinen, wo er seine Bestseller publizierte. Es waren ironische Büchern, in denen die Welt der Juristen aus der Vogelperspektive dargestellt wurde. Auch als Vizepräsident der FU in der Zeit, in der AssistentInnen und Studierende den Ausschlag bei der Präsidentenwahl gaben, machte er sich ebenso einen Namen wie als Anwalt seines Freundes Otto Schily vor dem Bundesverfassungsgericht. Bei der Verteidigung der en bloc ausgeschlossenen Kreisvorsitzenden der Berliner Jusos um Benneter und Kurt Neumann durfte ich schon als Student die juristischen Schriftsätze entwerfen, auf die das Schiedsgericht in seinen Tiraden zur Stamokap-Theorie nicht einmal einging. Wesel war kein Freund massentauglicher Theorieansätze aber er wollte, das alle zu Wort kommen können.
Für Spiegel, FAZ und SZ war Wesel ein linker Interlektueller. Für mich, der ich in seinem kleinen Dienstschloss in der Brümmerstraße Unterschlupf gefunden hatte, war er ein bemerkenswerter Individualist, der sein liberales coming-out als Ordinarius in Berlin hatte. Er war stolz darauf, dass er bei den damals noch üblichen privaten Antrittsbesuchen seine konservativen Kollegen in einer WG in der Knesebeckstraße (?)trotz vorgerückter Morgenstunde im Bademantel empfangen hatte. Dies war aber nur Verkleidung und spiegelte nicht das Bewußtsein der darin eingewickelten Person wieder. Er konnte auch formvollendet im Anzug auftreten. Ein Rechtswissenschaftler brauche keine Insignien, wenn er die Anforderungen der klassisschen Rechtsdogmatik eher nebenbei bewältigen könne. Es war Eloquenz und Abstraktionsvermögen, die er auch an sich selber bewunderte. Wenn er Friedrich Engels mit dem Satz zitierte „The pudding is in the eating“, dann bedurfte dies keiner Erklärung, um unter den ZuhörerInnen die Spreu vom Weizen zu trennen. „Neumodische Literatur“, wie es sein Vorgänger Ulrich von Lübtow bemerkte, ein Seminar zu Max Weber und eine teure Schreibmaschnie mit Proportionalschrift begleiteten seinen Einzug in dessen Institut.
Liberalität ist aber auch Luxus. Sie meidet die Verbindlichkeit struktureller Ansätze. Gesellschaftliche Veränderung ist ohne kollektives Handeln kaum möglich. Anders als Jutta Limbach fehlte Wesel bei der Studienreform am Fachbereich. Einzigartig für Deutschland hielt der verabschiedete Refomplan an der Zweiphasigkeit fest. Politisch nutzte er die Chance, dass die Ordinarien bei der Wahl die Ausbildungskommission boykottiert hatten. Mit den per Hochschulgesetz zu Professoren erhobenen akademischen Räten wie Limbach und Gerlach gab es kurzfristig eine reformbereite Konstellation. Die Chance wurde vertan. Wesel mied aber auch die Veranstaltungen zu Juristen im Nationalsozialismus, die das Dekanat verbieten wollte. Limbach war dabei, auch wenn sie es politisch für unklug hielt, ihren Beitrag zum Familienrecht im NS-Staat für den Sammelband zum „Recht des Unrechtsstaates“ frei zu geben.
Beim NS-Thema sind wir auch später aneinander geraten. Bei einer Strafverteidigerkonferenz drohte er, mit seinem Referat eineinhalb Stunden zu philibustern, wenn man mich reden lassen würde. Er unterschied auch bei Nazis zwischen klugen Köpfen wie Carl Schmid, die den Zeitumständen Tribut zollten, und den gewähnlichen Massenmördern. Da war ihm das andere Arbeiterkind am Fachbereich, der Arbeitsrechtler Bernd Rüthers, voraus. Dass dann nicht Rüthers, sondern Wesel im Auftrag des Beck-Verlags dessen NS-Geschichte erforschte, konnte mich nicht überraschen.
Trotz aller Spannungen verdanke ich ihm meinen Weg in die kritische Wissenschaft. Es begann mit einem einzigen Satz in seiner Anfängervorlesung, der mein Weltbild des Rechts prägte. Beim Standardfall zum wesentlichen Bestandteil einer Holztäfelung in einem Schloß i.S. des §94 BGB meinte er verschmitzt lächelnd , dass man dies nicht so ernst nehmen solle. Die Juristen hätten dafür Lösungen, die alle richtig aber auch falsch sein könnten. Man solle selbst entscheiden. Bei seinen Kollegen hatten wir dagegen erfahren, dass wir erst ab dem vierten Semester überhaupt Recht verstehen und beurteilen könnten. Der Appell an die eigene Kompetenz fruchtete. Ich habe es in seiner Vorlesung zum Bereicherungsrecht ausprobiert und dabei von ihm das Angebot erhalten, selber eine Vorlesungsstunde zu übernehmen. Es ging um das Sicherungseigtenum der Banken im Konsumkredit. Das hat mich bis heute geprägt. Nach meiner Präsentation bemerkte er, ich könne doch darüber promovieren und lud mich im Dorfkrug Dahlem zum Essen ein. Ich habe diese Aufforderung im 3. Semester ernst genommen. Er war allerdings überrascht, als ich ihm ein Exposé vorlegte, für das Limbach mich „an meine politischen Freunde“ verwies, während Heinz Wagner, den sie damit meinte, es mit ungenügend zensieren wollte.
Wesel mischte sich nicht ein. Dieser Individualismus und seine Liberalität, die ich unpolitisch fand, waren aber doch meine Rettung. Als bekannt wurde, dass der Fachbereich die Arbeit aus politischen Gründen ablehnen würde, schlug er mir allerdings vor, doch kurzfristig 30 Seiten zum Bereicherungsrecht vorzulegen. Er hat auch hier meine politische Entrüstung ertragen gleichwohl dem Zweitgutachter in der Sondersitzung der Zivilrechtslehrer meine Verteidigung allein überlassen. Ich habe wie viele andere von ihm gelernt, dass Individualismus durchaus sozial sein kann. Mein Dank kommt nun zu spät.